Dienstag, 31. Dezember 2013
wonderland
gestern treffe ich den therapeuten wieder.
"kommst du mit auf party?" frage ich vorher am telefon.
"ich weiß nicht, ich werde zu müde sein, ich musste heute arbeiten."
"schade."
"aber geh du doch auf deine party. kannst ja vorher zu mir kommen und dann weiterziehen", schlägt der therapeut vor.
und ich bin sprachlos. 99 von 100 männer hätten in dieser situation darauf beharrt, dass ich, wenn ich zu ihnen komme, gefälligst auch bleibe, weil so eine party in herrgottsnamen doch nicht wichtiger oder genauso wichtig sein kann wie ein typ, schon gar nicht, wenn man sich zum ersten mal privat trifft. doch dieser mann stilisiert sich nicht mal so eben vorneweg zum hauptevent meines lebens. wie unendlich angenehm. und schwupp, bekomme ich noch viel mehr lust, den therapeuten wiederzusehen.

ich schwinge mich auf mein rad und fahre eine sehr vertraute strecke, denn der therapeut wohnt fast genau da, wo das objekt früher mal gewohnt hat. ich blicke voller liebe auf den hauseingang, der nun zu tode renoviert ist und eine hässliche neue tür hat und beschließe, dass es gut ist, dass das objekt nicht mehr dort wohnt. dann fahre ich um die ecke und stehe vor dem haus des therapeuten, ein alter schneeweißer palast mit tausend schnörkeln. wie schön, denke ich bei jeder treppenstufe, die ich nach oben gehe, wie wunderschön, hier würde ich mich auch wohlfühlen.

der therapeut steht unter der tür. er umarmt mich, küsst mich aber nicht. ich bremse meinen ersten impuls der enttäuschung, langsam, du weißt doch wie schwierig das für dich selbst mit der nähe ist, und umarme ihn um so herzlicher zurück. dann betrete ich die wohnung und staune weiter, denn drinnen ist es mindestens so schön wie draußen. es gibt eine küche mit kachelofen, ein wohnzimmer mit riesigem klavier und ein winziges schlafzimmer. alles ist gleich geschmackvoll mit sehr dunklen möbeln und hellen textilien eingerichtet. es herrscht ein moderates chaos, so, wie ich es mag.

"spielst du?" frage ich und deute auf das klavier.
"nicht mehr."
"ich hab auch fünf jahre gespielt und jetzt steht mein klavier auf dem dachboden bei meinen eltern und sie wollen es verkaufen."
"das ist ja schade. was willst du trinken? wein?"
ich nicke und der therapeut flitzt in die küche. als er wiederkommt, wirkt er zerknirscht.
"ich hab leider nur so halbtrockenen wein. ich mag es immer nicht so ganz trocken."
ich lache.
"wunderbar. ich kriege von so saurem wein nur sodbrennen."
der therapeut schaut erleichtert und balanciert dann zwei gläser ins wohnzimmer.
"und sonst? chips? nüsse? irgendwas? ist dir warm genug? oder soll ich die heizung noch weiter aufdrehen?"
ich schüttle den kopf und klopfe auf den couch, damit der therapeut sich endlich setzt und ein bisschen zur ruhe kommt.

dann sitzen wir da und lächeln einander an.
der wein steigt mir nach zwei schlucken zu kopf.
"oha", sage ich.
"geht´s dir nicht gut", will der therapeut wissen.
"doch, doch, mir ist nur schwindlig geworden vom wein, aber das kann sein, weil ich gestern noch mit einem freund was geraucht habe, das war ein bisschen viel, und ich hab auch nicht viel geschlafen."
"geraucht? oder was geraucht?" hakt der therapeut nach.
ich winde mich, peinlich, dass ich immer gleich mit meinen drogenstories rausplatzen muss, bestimmt ist der therapeut als therapeut ein totaler anti-drogen-mensch.
"ähm, also ab und an rauche ich mal gras. aber nur selten", stottere ich.
"oh", sagt der therapeut. "ich rauche auch nur ganz selten, aber jetzt habe lust bekommen, was zu rauchen."
ich mache große augen, und der therapeut steht auf und geht ins nebenzimmer. dann kommt er mit tabak und einer riesentüte voller gras wieder.

"alter, wie kommst du an solche mengen?"
"och, das fliegt jetzt schon ein halbes jahr in meiner wohnung rum. ich hab das von einem klienten."
ich staune mit offenem mund.
"also ich hab dem gesagt, wenn er schon raucht, dann soll er mir mal was mitbringen. das ist jetzt nichts konfisziertes oder so", erklärt der therapeut weiter.
"okay... nicht dass dann irgendwann die kumpels von deinem klienten in deiner wohnung stehen und hier alles kurz und klein schlagen."
der therapeut lacht. dann schiebt er mir die papers rüber und fragt:
"magst du drehen? ich bin da nicht so geübt."
"ich auch nicht."

dennoch nehme ich mich der sache an. zumindest filter falten kann ich wie ein profi, da macht mir so schnell keiner was vor. der therapeut schaut gebannt zu, während ich ein paar sätze über luftkammersysteme verliere.
"woher hast du dieses ganze wissen?" fragt er dann.
ich halte den atem an und überlege, wie ich vom objekt erzählen kann, ohne dass allzu klar wird, in welchem verhältnis wir stehen.
"von einem freund", sage ich dann vage.
"und der raucht wahrscheinlich regelmäßig?"
"das ist der größte kiffer unter der sonne."
"das ist aber nicht gut."
"das weiß der schon."
"kann der so arbeiten?"
"der kann nur so arbeiten."
"was macht der denn?"
"krankenpfleger."
der therapeut schaut skeptisch.
"ich glaube, der ist auch ein bisschen depressiv", sage ich dann zu entschuldigung des objekts.
"ich habe kollegen, die halten einen mäßigen thc-konsum für eine gute möglichkeit, um depressionen zu lindern", sagt der therapeut zu meiner überraschung.

"warum ist dein freund denn depressiv, deiner meinung nach?" forscht der therapeut weiter.
verdammt. das objekt hätte ich heute gern ausgeblendet.
"och... der hatte halt ne beschissene kindheit... der vater ist ein säufer und schläger, der die existenz seines sohnes weitgehend ignoriert hat... die mutter so ne eiskunstlaufmutti, der es immer nur um seine sportlerkarriere ging... und dann lag er mal wochenlang im koma und als er aufwachte, konnte er nicht mehr richtig sprechen und hat gestottert... dann wurde er mit 27 unfreiwillig vater... naja, und auch heute hat er ein sehr kompliziertes leben mit entsprechend vielen seelischen einbrüchen", gebe ich die kurzzusammenfassung.
der therapeut hat sehr aufmerksam zugehört.
"war bei mir ähnlich", sagt er dann. "nur im koma lag ich nie und sportler oder vater war ich auch nicht. ich wollte nur schon sehr früh einfach nicht mehr leben."
"wann war denn früh?"
"so mit vier, fünf jahren."
"oha."
"hat aber dann noch 20 jahre gedauert, bis jemand verstanden hat, dass das eine depression ist."
"ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann es bei mir anfing. ich weiß nur noch, in meiner pubertät gab es immer mal wieder so zwei, drei monate, da ging es mir ganz schlecht, da konnte ich nur weinen oder vor mich hinstarren. ich hab mir dann heimlich johanniskrautkapseln gekauft und immer die achtfache dosis davon geschluckt", kichere ich. "so nach dem motto, viel hilft viel."
der therapeut lacht.
"hats was genutzt?"
"nee, kein bisschen. johanniskraut hat bei mir nicht mal nen placeboeffekt."
"und dann?"
"hab ich mit ephedrin weitergemacht."
"das zehrt dich aber aus."
"hat aber gut geholfen. und legal wars damals obendrein noch."
"naja, auf jeden fall scheinst du eine sehr experimentierfreudige persönlichkeit zu sein."

als der joint fertig ist, stehen wir am fenster und rauchen. der therapeut streichelt meinen nacken und meine arme, bevor seine hände zu meinen brüsten wandern. alarm, schrillt es in mir, willst du das? willst du das jetzt wirklich?
doch es ist warm und angenehm und tröstlich. wir küssen uns, dann schiebt mich der therapeut sanft, aber bestimmt in richtung schlafzimmer.

später liegen wir noch lange nackt nebeneinander. wir kuscheln uns an und erzählen uns mit flüsterstimme geschichten aus unserem leben. wir haben uns wahnsinnig viel zu sagen, stelle ich fest und immer wieder entdecke ich parallelen in der art, nachzudenken oder zu handeln.

gegen zwei erschrickt der therapeut.
"scheiße, ich muss ja morgen um halb sieben aufstehen."
"okay, dann hau ich jetzt ab."
"ja, ich muss leider immer ganz viel schlafen."
ich lache:
"du auch?"
"ja, ich brauche immer so zehn stunden eigentlich."
"geht mir genauso. manchmal auch 12 oder 13."
"manchmal hab ich schon ein schlechtes gewissen, wenn ich den ganzen tag verschlafe", gesteht der therapeut.
"kenn ich. aber hey, herrlich, wenigstens bist du dann keiner der männer, die mir um neun uhr an einem samstag frühstück ans bett knallen und erwarten, dass ich mich freue."
der therapeut lacht und küsst mich.
ich schlüpfe hastig in meine klamotten, dann in stiefel und jacke, gebe dem therapeuten einen letzten kuss und mache mich auf.
"gehst du noch auf party?"
"mal sehen."
"mach das doch und hab viel spaß."

draußen stehe ich in der frischen kälte und fühle ein leises, aber deutliches glück, das mich mit dem nachtwind umweht. dann hole ich mein rad und fahre in den club.