Samstag, 14. Dezember 2013
radioactivity
gestern war der tag der großen szinitgrafie. ich hatte sowas noch nie und stellte es mir ähnlich vor wie röntgen oder mrt, was ich zuvor ja nun reichlich hatte. also rein, ein bisschen radioakitivität in die knochen kriegen, einmal lustig durch die röhre und fertig.

um acht uhr morgens kam ich an der klinik an, wo meine inzwischen eingetroffenen eltern auf mich warteten. einer der größten fehler, die man in meiner situation übrigens machen kann, ist der fatale schrei nach mama. nach der diagnose knochenkrebs hatte ich einfach nicht richtig nachgedacht. panik macht ja impulsiv. jetzt waren diese beiden menschen gekommen, mit denen ich ohnehin meine differenzen hatten, die in der angeditschten nervlichen lage schon nach wenigen minuten voll zum tragen kamen.

ich war zunächst dankbar gewesen, dass sie nach kaum 48 stunden die koffer gepackt und in einen zug gesprungen waren, was angesichts der komplett fehlenden spontanität meiner eltern ein akt war, den ich schwer für möglich gehalten hätte. dann stellte ich jedoch fest, dass meine eltern mit der situation noch viel weniger klar kamen als ich. ich war darauf vorbereitet und machte gleich zu anfang die große ansage, dass es mir leid täte, dass sie das erleben mussten und dass ich wisse, wie schwer das für sie sei, dass ich nun aber das quasi unmögliche verlangen müsse: dass sie ihre eigenen ängste und den kummer einmal zurückstellten und mir stattdessen mut machten. genauso hätte ich sagen können, verpisst euch, denn meine mutter war sofort tödlich beleidigt und schmollte, weil es mir ja offenbar egal sei, wie es ihnen als eltern gehe und dass mein vater kurz vor einem herzinfarkt stehe. weiterhin war die rede davon, dass sie mich sofort in meine nichtmehr-heimat verfrachten wollten, was mir noch mehr angst machte.

als wir nach der beinahe-eskalation im warteraum der nuklearmedizin saßen, überlegte ich tatsächlich, wie weit meine eltern in ihrer vermeintlichen fürsorge gehen würden und wohin ich im ernstfall flüchten könnte. dann unterbrach der strahlenarzt meine überlegungen und rief mich zum aufklärungsgespräch. meine mutter wollte natürlich mit. der strahlenarzt guckte skeptisch. ich überlegte, wollte dann aber aber nicht noch mehr unfrieden stiften und hoffte, dass meine mutter den arzt nicht allzu sehr strapazieren würde.

der arzt war zum glück arschcool und erkannte die lage klar. er widmete sich also erst meiner mutter und ihren sorgen, erklärte, dass sie mir weder sofort chemo verpassen noch körperteile amputieren würden, nein, schon gar nicht vor weihnachten, dem heiligen familienfest, und dass es vom heutigen tage bis zu meiner wenigkeit als kompletten pflegefall noch weit sei. dann erklärte er mir, was nun als nächstes passieren würde und nahm mich mit in den dritten stock, wo schon zwei fachkrankenpfleger - oder röntgenassis oder was man da eben so ist - auf mich warteten.

weil die welt so klein und die szene hier relativ groß ist, war, wie es das schicksal so wollte, einer der beiden weißkittel ein club-bekannter von mir. wir machten beide große augen und lachten. dann hieß mich mein bekannter platz nehmen, weil er mit die radioaktive flüssigkeit spritzen musste.
"wehe, du durchbohrst mir meine sehnen, das passiert bei mir ganz schnell", warnte ich.
"keine sorge", meinte der bekannte und schaffte es, mit einem ganz sanften pieks den butterfly in meinen arm zu manövrieren. dann wurden meine venen erst mit kochsalzlösung gespült, anschließend verstrahlt und zum schluss noch mal gespült.

danach kam untersuchung nummer eins, eine art ganzkörperscreening, das potenzielle metastasen ermitteln sollte.
"jetzt musst du leider 20 minuten ganz, ganz still liegen", sagte der bekannte.
"tust du mir nen gefallen", fragt ich, "kannst du mir bitte immer mal sagen, wie lange ich noch habe."
"klar. ich kann dir sogar musik machen, wenn du willst."
"auja."
"was willste denn hören?"
leider hatte die klinik nur radio, aber irgendwo spielten die sisters gerade "alice" und der bekannte und ich grinsten uns an.
"call me you personal dj", scherzte der bekannte.
dann setzte er sich an den computer und startete das programm. die ersten zehn minuten gingen ganz locker, danach wurde es kritisch, weil ich natürlich auch verdammt angespannt war und deshalb schneller zu zittern begann.
"dein kopf ist gleich raus", kündigte der bekannte nach rund 13 minuten an, "dann kannst du über den kleinen bildschirm über dir zusehen, welche körperteile gerade gescannt werden."
fasziniert beobachtete ich, wie auf dem bildschirm meinen hände flimmernd und fluoreszierend sichtbar wurden.
"wow", sagte ich.
"die hände bitte ganz still halten, da haben wir ganz besonders feine strukturen", mahnte mich mein pfleger.
"ich will aber nicht sehen, wo ich geschwüre hab."
"das siehst du auch jetzt noch nicht."
"ich mach trotzdem lieber die augen zu, ja, und du sagst mir, wie lange noch."
"okay."

nach dem ersten screening hatte ich erstmal pause, weil die radioaktivität zeit brauchte, um ganz tief in meine knochen vorzudringen. ich traf meine eltern im cafe wieder, wo sich meine mutter sichtlich bemühte, die mundwinkel auf normalhöhe zu halten. offenbar hatte mein vater, der der vernünftigere von beiden war, ein machtwort gesprochen. wir tranken relativ wortlos kaffee, dann bat ich um eine stunde für mich, in der ich einen spaziergang machen wollte.

ich hatschte in den park nebenan, dann rief das objekt an.
"wie weit bist du und wie geht es dir?"
"noch mittendrin. mir geht es aber jedenfalls besser als meinen eltern."
"lassen sie dich das merken?"
"wir hatten bis vor kurzen kein anderes thema als ihre sorgen."
"oh mann. das ist natürlich nicht so produktiv."
"nee, überhaupt nicht. ich hab mich gerade abgeseilt, weil die situation so kacke ist und ich nicht ständig den clown spielen kann für die zwei."
"schrei sie doch einfach mal an."
ich lachte.
"dann enterben sie mich."
jetzt kicherte das objekt:
"dir ist schon klar, dass die erbfolge auch andersrum passieren könnte?"
"ach stimmt, du hast recht, ich muss mir ja vielleicht gar keine sorgen mehr machen!"
der galgenhumor tat gut und die angst verpisste sich für ein paar minuten aus meiner brust.
"brauchst du ne umarmung?" fragte das objekt dann. "ich bin nebenan und könnte schauen, ob ich mal kurz runter kommen kann. kann ich aber nicht versprechen, hier ist armageddon wegen weihnachten, lauter suizide, und die angehörigen rennen mir die bude ein."
"schon okay, ich komm klar."

gegen mittag folgte ein zweites, kürzeres und relativ entspanntes screening, dann kam mein pfleger wieder und manövrierte mich in eine andere lage.
"du musst jetzt noch mal ungefähr 20 minuten lang still liegen und dabei die füße so nach innen drehen, dass sich deine zehen berühren."
"nicht dein ernst, oder? da halt ich nicht durch."
"ich kann dir auch die füße zusammenbinden und die beine seitlich fixieren."
"ja, bitte, ich bin jetzt schon ganz zappelig."
der bekannte bettete meine beine in eine art kleine sacksäcke und band meine füße zusammen.
"bondage mal anders", witzelte er.

wir machten wieder countdown mit musik. als ich danach von der liege krabbelte, war ich zittrig, schweißgebadet und bekam kreislauf. der bekannte fing mich auf und setzte mich auf einen stuhl.
"trink mal noch was. du musst auch die strahlung aus deinem körper kriegen."
"boah, ich kann nicht mehr trinken, ich hab schon einen wasserbauch, habe ich das gefühl."
"du bist bestimmt auch unterzuckert."
"ich krieg nichts runter."
"okay, verständlich, aber zwing dich ruhig."

dann betrat der oberarzt den raum und schenkte uns einen kritischen blick.
"ich brauche noch zusatzaufnahmen."
dann drehte er sich um und verschwand.
"was soll das denn nun heißen?" frage ich.
"wir machen noch mal aufnahmen von deinem knochen in scheibchen. dabei dreht sich das gerät einmal ganz um dich."
"das ist ein schlechtes zeichen, oder? der würde doch keine zusatzaufnahmen wollen, wenn da nichts verdächtiges wäre."
der bekannte berührte meine schulter.
"mach dir keine sorgen, so ungewöhnlich ist das nicht."
"wie lange dauert das denn nun wieder?"
"20 minuten, knappe halbe stunde. brauchst du ne pause?"
ich nickte.
"muss ich dann wieder irgendwelche komischen stellungen halten?"
"nein, ich polstere dir die knie ein bisschen bequem, wenn du das magst, aber es ist nichts besonderes."
ich nickte wieder.
"dann hole ich jetzt den nächsten patienten rein und du isst zwischenzeitlich was. ich hol dich so in einer viertelstunde oder 20 minuten wieder rein."

ich aß zwei bissen von einem brötchen und las eine zeitschrift. dann ging es weiter.
als ich endlich draußen stand und meine eltern wieder traf, war es halb vier uhr nachmittags.
"was wollen wir nun machen?" fragte mein vater, der inzwischen gefasster wirkte.
"hm, ich muss mal schauen, ich kenn hier wen, der arbeitet da drüben, der wollte vielleicht noch kurz runterschauen."
"dann gehen wir schon mal was essen."
"okay."

ich latschte um den block, doch das objekt war nirgends zu sehen. ich funkte es an, erhielt aber keine antwort. erst eine stunde später, als ich längst zuhause weilte, rief es an.
"alter, das ist der horror derzeit auf station. das ist das schlimmste weihnachten, das ich hier in vier jahren erlebt habe."
"hahaha, frag mich mal."
wir lachten, und es tat so gut, endlich wieder zu lachen.
"jetzt hab ich aber gar keine umarmung bekommen", beschwerte ich mich.
"hm, ich habe morgen frühdienst... du könntest mich abholen und dann... gehen wir im park spazieren? ich zeige dir auch meinen lieblingsplatz."
"magst du denn spazierengehen? sowas haben wir noch nie gemacht..."
"du bist sicherlich die größere spaziergängerin von uns beiden, aber man muss ja aufgeschlossen bleiben. und ich finde den park echt gut."
"dann drehe ich uns einen johnny und bring den mit."
"jetzt hab ich noch mehr lust auf spazierengehen."
"das dachte ich mir."
"du... taktikerin."
"ich hab schon mal schlimmere schimpfworte aus deinem mund gehört."
"das soll sich aber nicht wiederholen."
"na gut. dann sag mir bescheid, wenn du morgen durch bist und dann bin ich da, so gott will."
"bis morgen, und schlaf nachher gut. und vergiss nicht, dir was gutes zu tun und was leckeres zu essen."
"bis morgen, mutti."
das objekt lachte in den hörer und legte auf.

meine eine öffnete sich ein flasche wein, drehte einen und begab sich zu einer zeit, zu der sie die letzten 25 jahre nicht mehr schlafen ging, ins bett.
kraft sammeln.

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