Sonntag, 8. Dezember 2013
totale sonnenfinsternis
ich gehe und gehe durch den regen, der meniskus schreit, stopp, mach ich nicht mehr, kann ich nicht mehr, will ich nicht mehr, fast wie die seele in letzter zeit wieder. aber ich hab tramal, voltaren und whiskey im blut, bin der meinung, dass das reichen muss, um so einen meniskus und auch eine seele zum schweigen zu bringen, drohe beiden schließlich auch noch mit tanzen, na bitte, schon geht es wieder für ein paar meter.

im club bin ich brezelbreit entspannt und nicht in habacht-stellung wie sonst. ich grinse offenbar nett in die runde, bekomme gleich einen porno vom barkeeper und just drauf einen jägermeister von einem glatzköpfigen überundüber-tätowierten spendiert. der architekt ist das einzig bekannte gesicht weit und breit, auch so ein der zeit verloren gegangener, auch so ein überqualifizierter sondermüll auf der resterampe.

ich beschließe, mich weiter volllaufen zu lassen, so anstatt leichenschmaus, und hoffe, das ist im sinne des verstorbenen. ich muss an seine freundin denken, seine ganz große liebe, die er erst im herbst kennen gelernt hatte, was für ein schönes paar die beiden waren, und ich bin froh, dass ich niemanden habe, denn dann kann mir auch keiner einfach so wegsterben.

neben mir sitzt eine andere frau, die einen hübschen pullover trägt, einen häkelpulli mit ganz vielen großen löchern, mehr löcher als pulli. ich mag sie auf anhieb, als sie kurz den blick hebt und mich anlächelt, bevor sie den nächsten wodka ordert.

kurz darauf habe ich pech und ein langjähriger verehrer, so unangenehm wie hartnäckig, betritt den raum. mangels objektiver schutz-option und reaktionsschnelligkeit schaffe ich es nicht mehr, vom barhocker zu rutschen und mich in der menge zu verstecken. also muss ich hallo sagen und kann sogar ein bisschen alkoholisiert vor mich hingrinsen, was ich sonst dringend unterlasse, weil ich ihm gegenüber so unfreundlich und arrogant wie nur möglich sein will. der scheinbare erfolg spornt meinen verehrer natürlich an. wie fast immer versucht er, über unseren vermeintlich gemeinsamen musikgeschmack weitere vermeintliche gemeinsamkeiten aufzubauen. ich höre weg und lächle und nicke nur, das scheint eine weile zu reichen, bis der typ schließlich meint:
"konversation ist so deine stärke, was?"
"bin blau", nuschle ich.
"du bist ganz schön gestört", knallt mir der typ da an den kopf.
jetzt muss ich doch lachen und sage:
"richtig, du sprichst hier ja auch mit einer psychiatriepatientin."
dem typ fällt erstmal das gesicht runter, dann meint er allerdings ganz nüchtern:
"sowas hab ich mir schon gedacht."
als ich mit dem kopf auf den tresen sinke, weil ich unfassbar erschöpft bin, von den ereignissen, der anstrengenden arbeitswoche und den ständigen schmerzen, streckt er die hand aus und streichelt meinen nacken. ich formiere mit aller kraft den letzten widerstand und rutsche weg.
"nich anfassen" sage ich brüsk.
endlich trollt sich der typ.

mein widerstand gegen berührungen ist kein grundsätzlicher, aber ich werde viel berührt, von menschen, die mir nichts bedeuten, die ihr wort nicht halten, die mir nicht angenehm sind. früher habe ich berührungen gesammelt, mich daran hochgezogen, hurrah, wie begehrenswert ich bin, doch heute, wo ich in den spiegel sehe und warte, ob er zerspringt angesichts dieser ausgeburt von hässlichkeit, schäme ich mich meiner selbst zu sehr und zugleich verachte ich andere, auch schöne menschen, für ihre subjektive hässlichkeit, ihre bedürftigkeit, ihren hunger nach nähe, gerade so, als stünde ich darüber, ich, die ich butterweich werden und zerfließen kann in einer umarmung, einer richtigen, zur richtigen zeit, am richtigen ort, vom richtigen menschen.

zum ende des abends bekomme ich nicht mehr viel mit, ich sitze da zwischen der frau im schönen pulli und einem bekannten, der auch immer traurig ist, weil sich seine freundin vor ein paar jahren ebenfalls umgebracht und seine mutter ihn verstoßen hat, als er beschloss, sich als transe zu outen. ihm erzähle ich die geschichte, die ich an diesem abend im herzen herumtrage, und weil hinter meinen augen mal wieder die sahara herrscht, weint er stellvertretend ein paar tränchen, kajalstrich und wimperntusche verlaufen und ich muss nun doch lächeln, das erste mal an diesem abend so ein lächeln, bei dem es warm wird rings um diesen eisklumpen in der brust.

gegen halb fünf streiche ich die segel, sehr betrunken, umarme alle und auch die frau im schönen pulli, die mir angesichts meines zustands anbietet, dass sie mich mit zu sich nach hause nimmt, aber ich versichere ihr, es bis zum bus zu schaffen. trotzdem drückt sie mir ihre telefonnummer aufs auge, und noch einmal wird mir wärmer, wie schön, wie schön es doch manchmal ist, am leben zu sein. und vielleicht verbuche ich diesen abend als ein abschiedsgeschenk, weil er so war wie der verstorbene, sehr traurig, aber eben auch ein wenig heiter und herzenswarm, wie ein leises lachen aus einer anderen welt.

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