Montag, 16. Dezember 2013
leben
und dann durchlebe ich die längsten 32 minuten ever im wartezimmer der unfallchirurgie. das herz schlägt bis zum hals, hände und beine zittern unkontrolliert, ich schwitze wie ein schwein. ein alter mann im rollstuhl schaut mich mitleidig an, dann widmet er sich wieder seiner zeitschrift.

der junge blonde chirurg kommt mit unbewegter miene herein, bittet mich in sein zimmer, setzt sich, entschuldigt sich für einen systemfehler, die patientenakten seien daher derzeit nur begrenzt einsehbar. als er dann den blick hebt und den mund öffnet, habe ich das gefühl, gleich ohnmächtig werden zu müssen.

dann beginnt er endlich zu sprechen:
"ihre knochen sind frei von metastasen. auch die veränderungen im knie sind unauffällig, das heißt, wir können mit 99 prozentiger wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es sind um ein osteofibrom und nicht um ein osteosarkom handelt."

und alle weihnachtsglocken läuten für mich.

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edit

die erste nummer, die ich nach dem befund wähle, ist die des objekts. es hat mich am mittag extra noch einmal angerufen, um mir zu sagen, dass es gewissermaßen auf abruf stehe, egal, wie die endgültige diagnose aussieht. als ich anrufe, ist es gerade dabei, mit dem sohnemann die treppen zu seiner bruchbudigen wohnung zu erklimmen.
noch bevor es etwas sagen kann, rufe ich:
"gut! es ist gutartig!"
dann höre ich ein poltern und die leitung ist tot. eine minute später ruft mich das objekt zurück:
"mir sind eben zehn tausend tonnen steine vom herzen und das telefon ins treppenhaus gefallen."
im hintergrund kreischt der sohnemann:
"und ich habs geholt! ich habs wieder hochgeholt!"
"ach morphine", fährt das objekt fort, "das ist so wunderbar, es freut mich so für dich. du hast das verdient."
"ich freu mich auch wie irrsinnig."

dann betritt das objekt offenbar die wohnung und sagt zu seinem lütten:
"der papa telefoniert jetzt und du beschäftigst dich erstmal alleine, ja?"
"okay", piepst die kinderstimme, dann geht eine tür und das objekt widmet mir wieder seine aufmerksamkeit.
"und wie fühlst du dich jetzt?"
"wie wenn ich auf nem gleis gelegen hätte und ein güterzug auf mich zugerast wäre... und jemand hat ihn in letzter sekunde aufs nebengleis gefahren."
das objekt lacht.
"und hast du auch was mitgenommen an erkenntnissen aus dieser zeit?"
"hm, also ich habe überrascht festgestellt, dass ich keine angst vorm tod habe. also vorm sterben schon... vor dem wie und vor allem dem wie lange... aber tot zu sein wäre okay gewesen. wenn die heute gesagt hätten, sie haben 25 metastasen und das lohnt sich alles nicht mehr, hätte ich mir mein morphium abgeholt und wäre fein gewesen. das hat, glaub ich, auch damit zu tun, dass ich so viel über selbstmord nachgedacht habe. in dem fall hätte mir das schicksal das eben aus der hand genommen."
"da siehst du mal, depressiv sein hat manchmal auch einen vorteil", sagt das objekt.
"ja, mann, wer hätte das gedacht! ich bin privilegiert mit meiner arschkarte!"
wir lachen beide.

"und hast du auch was schönes erlebt in dieser zeit? was würdest du für dich festhalten?"
was für eine frage. eine typische objekt-frage.
"das war alles sehr intensiv. die angst und die traurigkeit... aber auch die schönen momente. der sex neulich bei dir oder unser spaziergang... ich hab das alles ganz anders wahrgenommen. einzigartig und kostbar und vielleicht ohne die möglichkeit einer wiederholung."
ich stocke, weil ich angst habe, zu viel gefühlsduselei zu evozieren, aber das objekt atmet nur ganz tief und sagt:
"ging mir auch so."
wir schweigen eine weile, dann fängt der akku des objekts an zu piespen.
"verdammte scheiße", flucht das objekt. "willst du mir noch was sagen? was wichtiges?"
was meint es bloß? ich rätsle und entscheide mich dann für die version kleiner feigling:
"ich würde dich gern zum essen einladen. so richtig feudal. wenn du magst und du zeit hast."
"oh!" das objekt, das mindestens so verfressen wie meine katze und für kulinarische experimente immer aufgeschlossen ist, ist hocherfreut.
"kochst du?"
"äh, nö. weil das könnte unangenehm werden und das wäre nicht sinn der sache. ich hatte an essen gehen gedacht. du darfst auch gerne was aussuchen."
"dann bin ich für... was muscheliges."
"hä?!"
"auster?"
ich stehe auf der leitung, bis sich das objekt kaputt zu lachen beginnt.
"ach, ich verstehe. du meinst so... wiener würstchen in auster an frischen eiern?"
"genau. gerne auch als nachtisch. nur für das wiener würstchen müsste ich dir jetzt eigentlich die nippel langziehen."
"scheint, als hättest du aus dieser zeit auch was mitgenommen."
"genau. das leben ist zu kurz, um auf sex mit morphine zu verzichten."
"dann meld dich doch einfach, wann es dir passt."
"mach ich. und du schick ab und an mal ne brieftaube, falls du in den süden fährst."
"aye-aye."
"braves mädchen. bis bald."
"ciao."

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