Sonntag, 22. November 2015
dunkle tage
als ich die wohnung betrete und mich die lederjacke in die arme nimmt, bin ich ein bisschen erschrocken. abgekämpft und schmal sieht sie aus, die breiten schultern hängen.

"was ist los mit dir, bist du krank?" will ich wissen. "oder stressen dich die stiftungen wegen deiner diss?"
"komm erstmal rein", sagt die lederjacke und geht in die küche.
"magste nen tee oder lieber was hochprozentiges?" ruft sie in den flur, wo ich gerade jacke und schuhe ablege.
"gerne beides!"

dann sitzen wir am küchentisch, quarzen, vor uns die dampfenden becher tee und auf meiner seite ein glas whiskey-cola.
"trinkst du gar nicht?"
die lederjacke schüttelt den kopf:
"ich muss jetzt klar bleiben, ich muss so viel organisieren."
"was denn organisieren?"
die lederjacke schaut mich müde an und meint dann:
"mein bruder ist tot."
"hä?!" ich reiße die augen auf. "welcher denn?"
"der lütte."
"dein lieblingsbruder?"
"ja."

ich kenne den kleinen lederjackenbruder, der, anders als die vier anderen harten jungs, ein kleiner, runder, sehr lieber typ war. ich bin perplex und überlege.
"magst du drüber reden?" frage ich vorsichtig. "ich meine, natürlich bin ich neugierig, aber ich möchte nicht, dass du jetzt zum vermutlich wiederholten male denselben garn spinnst und dich quälst."
"ich erzähls dir, weil du eine gute freundin bist", meint die lederjacke erschöpft. "außerdem weiß ich, dass du keine blöden fragen stellst und nicht diese mitleidstour abziehst."
"dann schieß mal los. war er krank?"
"nee. der wurde... überfallen."
"what?!"
"ja, vor zwei wochen."
"vor zwei wochen?!"
"naja, gestorben ist er erst am freitag."

mir wird eiskalt und ich nehme den heißen tee in die hände. dann erzählt die lederjacke die schrecklichen details.
"die mordkommission ist da jetzt dran", schließt sie ihren traurigen bericht. "die haben auch schon einen verdächtigen geschnappt. mir ist das ja egal, das macht den kleinen auch nicht mehr lebendig. aber für meine eltern ist das superwichtig."
"ja, das glaube ich. wie verkraften die das so?"
"die sind unfassbar tapfer. vor allem meine mutter."
"deine eltern sind ja auch cool", sage ich.
"ja, mit denen konnte man schon immer gut reden und diskutieren, die sind nicht dumm. und das hilft jetzt natürlich, weil sie ja auch nicht hier wohnen. ich telefoniere ganz viel mit denen."
"haben die den kleinen noch mal sehen dürfen?"
"ja, die waren natürlich da, als er in der klinik war. die haben das auch echt gut gemacht, die ärzte und die pfleger. der sah eigentlich aus wie immer, nur halt im koma."
"mensch."
"du musst dazu nichts sagen", meint die lederjacke.
"ich sag auch nichts dazu", erwidere ich. "von blöden beleidsbekundungen haste ja nix."

dann schweigen wir eine weile.
"das sind die schwersten tage meines lebens", sagt die lederjacke und ihre stimme wird ganz rau. "damit... rechnet man ja irgendwie nicht. der kleine war ja jetzt auch nicht irgendwo im sozialen brennpunkt unterwegs. du kennst die gegend, das ist alles gutbürgerlich da."
"ja. da ist eigentlich alles etepetete."
die lederjacke schließt die augen und lehnt sich zurück.
"naja, und nächste woche ist dann die scheißbeerdigung. mir graut so davor. vor allem, weil dann da die ganzen dämlichen leute mit ihren betroffenheitsfressen rumstehen und zum x-ten male die blutigen details hören wollen."
"dann sag denen, dass du nicht darüber reden willst. dazu hast du jedes recht."
"und die verfickte presse wird wahrscheinlich auch wieder da sein. die waren ja auch schon hier. die sind ja wie die geier, die sensationsgeilen arschlöcher. wollten mich sogar erpressen, indem sie behauptet haben, sie wüssten schon das ein oder andere. zum glück waren gerade meine anderen brüder hier und, naja, du kennst die schränke ja... dann sind die idioten wieder abgehauen."
"scheiß leichenfledderer. pass bloß auf, dass die nicht an deine eltern rankommen."
"ich hab meine eltern schon vorgewarnt."
"gut so."

das handy der lederjacke klingelt.
"meine mutter", sagt sie zu mir und verschwindet kurz nach nebenan. ich höre sie reden, erst ruhig, dann immer genervter.

"alles gut", frage ich, als die lederjacke wieder in die küche kommt.
"die dreht total am rad wegen dem leichenschmaus."
"nimms ihr nicht übel. das ist eine bewältigungsstrategie."
"wie meinste?"
"naja, aktionismus. je mehr du dich in organisatorisches reinsteigerst, desto weniger musst du dich mit deinem schmerz konfrontieren."
"kannste recht haben. ich hab wahnsinnige angst, dass meine mutter auf der beerdigung zusammenklappt."
ich lege der lederjacke den arm um die schulter.
"dann lass sie. das muss dann auch mal raus."
"ich hoffe, ich halte das aus."
"auch du musst das nicht aushalten. wenn du heulen musst, dann heul. pack dir nicht so viel verantwortung auf die schultern. das seelenheil deiner mutter hängt nicht alleine an dir."
die lederjacke schmunzelt und eine strähne fällt in ihr hübsches gesicht.
"du weißt, ich bin da nicht so gut drin."

ich beschließe, dass die lederjacke nun ablenkung braucht und schmeiße einen film rein. der plan geht auf. die lederjacke lacht einige male und wirkt am ende um einiges entspannter.
"was für ein cooler streifen. der hätte meinem bruder auch gefallen."
"siehste mal. und solange man an jemanden denkt und sich an das schöne mit ihm erinnert, ist derjenige auch nicht wirklich tot."
die lederjacke schaut mich an:
"das hast du gut gesagt. so versuche ich das auch zu sehen. ich will dankbar sein für die wunderbaren momente, die wir hatten."
"das ist ein guter weg, denke ich. er wird nicht in jedem moment funktionieren, aber.... das ist vielleicht so eine gesunde haltung, zu der du immer wieder zurückkehren kannst."
"danke auf jeden fall, dass du da warst", sagt die lederjacke.
"ich hab zu danken. und wenn du mich brauchst, weißt du, wo du mich findest. jederzeit."
wir nehmen uns noch einmal in die arme, dann stapfe ich die treppen nach unten.

draußen riecht die kalte nachtluft nach kommendem schnee. noch ein monat, dann ist weihnachten. egal wie traurig man ist, die welt dreht sich weiter.

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