Sonntag, 29. März 2015
stigma
"hast du manchmal auch so gedanken", will der dr.-ing wissen, als wir uns heute sehen und uns zunächst über das flugzeug-unglück unterhalten.
"das sind doch alles nur vermutungen", sage ich. "der absturz muss doch gar nichts mit der depression zu tun gehabt zu haben. wenn du mal einen schlechten tag hast, fährst du dann beispielsweise deswegen auf der autobahn amok?"

der dr.-ing schaut mich an und ich merke schon: die voreingenommenheit vernagelt sein hirn für alle rationalen argumente. wieder mal bestätigt sich mein eindruck, dass kognitiv hochintelligente menschen oft emotional vollkommen verblödet sind.

also entscheide ich mich zum frontal-angriff:
"na gut, also wenn du schon so direkt fragst: nein, ich verspüre nicht das leiseste bedürfnis, mich in einer fluguniform in ein cockpit zu mogeln und dann als kamikaze-fliegerin die elbphilharmonie oder so zu rammen. aber manchmal stelle ich mir vor, dass ich untreue ehemänner mit meiner nagelschere kastriere."
der dr.-ing versucht sich in einem lächeln, das jedoch etwas verunglückt. beim anschließenden vögeln ist er merklich nicht ganz bei der sache. gedanklich positioniere ich den dr.-ing auf meiner abschussrampe.

hinterher bin ich allerdings aufgewühlt und denke über das gespräch nach. plötzlich fällt mir ein, dass das flugzeug-unglück einen bleibenden effekt haben könnte: die weiterführende stigmatisierung psychisch kranker.

als offiziell irrer soll man ja immer hübsch zu seinen leiden stehen. psychische erkrankungen seien keine schande, heißt es, depression kann jeden treffen - sie kennen ja den belanglos-oberflächlichen blubb, den die pharmakonzerne überall abdrucken. trotzdem funktioniert das nicht. einen krebskranken würde man bedauern. psychisch kranken begegnet man mit misstrauen: ist der auch leistungsfähig? verhält der sich möglicherweise peinlich? sieht er nicht doch gaga aus? und jetzt, ganz neu: rastet der vielleicht aus und bringt sich und andere um?

als ich frisch meine diagnose hatte, war ich so naiv zu glauben, ich könne offen damit umgehen. weil ich ja ein intelligenter mensch bin und unter anderem auf arbeit schon jahrelang meine kompetenz bewiesen hatte. meine chefin hörte sich das alles an, bedauerte - und legte mir die kündigung auf den tisch. mein arzt, der mich in der klinik behandelte, sagte mir daraufhin, dass es klüger sei, im job niemandem davon zu erzählen. ich hielt dagegen: wenn man gegen stigmatisierung kämpfen wolle, müsse man doch offenheit beweisen. der arzt zuckte die schultern und meinte, ich sei nicht in der verfassung, meinen kopf hinzuhalten. wenn dann sollte ich lieber freunde und familie einweihen.

womit er natürlich recht hatte. und auch wieder nicht. denn die reaktionen meiner mitmenschen, die ich einweihte, erweckten in den kommenden tagen und wochen bei mir den eindruck, vollkommen alleine auf der welt zu sein. nach zwei jahren war das objekt der einzige mensch in der stadt, dem ich noch vertraute.

für mich selbst gäbe es theoretisch nur eine konsequenz: nie wieder irgendjemandem ein sterbenswörtchen erzählen. immer hübsch lachen und wenn man tränen in den augen hat, eine allergie vortäuschen. keinem menschen vertrauen. nie. unter keinen umständen. praktisch macht mich das allerdings aggressiv. ich bin ein offener mensch. ich habe keine lust, mich verstellen zu müssen. trotzdem tue ich es viel zu oft. selbstgewählte isolation, um keine gesellschaftliche isolation fürchten zu müssen. auf jeden fall aber isolation und damit den garantieschein auf einen fortschreitenden abwärtsstrudel. ganz einfach, weil isolation per se nicht happy macht und nichts mit mal-schön-seine-ruhe-haben zu tun hat.

gegen die symptome der erkrankung gibt es pillen. gegen das stigma nicht. eine gesellschaft kann man nicht therapieren, solange die mediale darstellung von psychischen erkrankungen dazu führt, dass man angst vor uns hat.

vielleicht ging es dem copiloten ja ähnlich und das stigma seiner erkrankung wuchs ihm über den kopf. wir wissen es nicht. und deshalb sollten wir auch nichts glauben, was einige medien in ihrem pseudopsychologischen leichenfledderei-wahn schreiben. die würde des menschen ist unantastbar. das gilt auch für psychisch kranke.

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