Mittwoch, 25. März 2015
hommage an horst
horst ist tot. gestorben im alter von nicht ganz 60 jahren. nach jahrzehntelanger drogen- und alkoholabhängigkeit und 12 jahren knast.

wir begegneten uns erstmals 1998 in der wohnung meiner damals besten freundin j.
"das ist horst", sagte j., als ich reinkam.
horst hockte zurückgelehnt auf der couch, glotzte auf meinen langen beine, pfiff durch die zähne und krakeelte:
"menschenskinder, MENSCHENSKINDER, mädel, das ist ja ein fahrgestell!"
"lass die kleine in ruhe", lachte j., "die ist noch nicht mal volljährig", und dann, zu mir gewandt:
"musst keine angst haben, der ist immer so."

ich setzte mich erstmal verschüchtert und guckte mir horst näher an. uralt schien der mir und ziemlich ungepflegt.
"hast du ne kippe", fragte mich horst.
"nee", sagte ich leise.
horst wandte sich an j.:
"lass uns mal kippen kaufen gehen!"
wir schlurften auf die andere seite der straße zum automaten. sechs mark kostete damals eine schachtel, sofern ich mich recht erinnere. der automat schien unser geld jedoch nicht zu wollen. j. schlug vor, wieder nach hause zu gehen, ihr freund würde gleich kommen und der hätte bestimmt tabak. horst weigerte sich. wenn der dämliche automat keine kippen ausspuckte, dann würden wir jetzt eben in die kneipe gehen.

die nächste kneipe war am ende der straße. eine der unzähligen vollkommen abgeranzten südstadt-kneipen. wir gingen hinein und ergatterten einen platz am fenster, während horst nach kippen fragte. er bekam eine schachtel und reichte sie an uns weiter. da saßen wir dann und schmökten.
"haste nen freund, kleine", wollte horst von mir wissen.
ich nickte.
"no boy no joy", krakeelte horst wieder.
"sie ist die freundin von meinem bescheuerten ex", sagte j.
"heidewitzka!" brüllte horst.
"aber die passen zueinander wie arsch auf eimer. wollen sogar heiraten", grinste j. und legte den arm um mich.
"hauptsache, du bescheißt nicht", sagte horst zu mir. "hörst du? niemals einen anderen bescheißen."

horst gehörte für die kommenden monate gewissermaßen zum inventar. wir trafen uns häufiger bei j. und verstanden uns, nachdem ich mich an seine unverblümte art gewöhnt hatte, sehr gut. er war der erste mann, der sich vor meinen augen einen schuss setzte. und dann großzügig fragte, ob ich auch wolle. ich hatte aber "wir kinder vom bahnhof zoo" gründlich gelesen und wollte nicht in wenigen monaten völlig druff irgendwelchen pennern am bahnhof den schwanz lutschen. die offenheit, mit der horst fixte, schockierte mich, gehörte aber irgendwann zu meinem ganz normalen horst-bild. er mochte es, wenn ich erzählte, während er in seiner dämmerwelt versank.

horst war interessanterweise verheiratet. mit einer frau, die nicht drogenabhängig war. sie war launisch und bösartig, sodass ich nicht verstand, warum horst sie liebte. ab und zu kippte sie sich einen hinter die binde, zog durch die kneipen und riss sich kerle auf. das konnte ich mir von einer frau in horsts alter irgendwie gar nicht vorstellen, schien aber zu stimmen. denn eines tages, als wir mal wieder in der kneipe kippen holten, saß da horsts frau. mit einem typen, der ein zwillingsbruder von horst hätte sein können: genauso schnauzbärtig, genauso ungepflegt, genauso laut. ich erwartete eine szene, aber horst drehte sich nur einfach um und ging hinaus. ich folgte ihm, legte ihm den arm um die schulter, doch er schüttelte ihn nur ab und verschwand im park nebenan.

danach sah ich horst lange nicht mehr. j. erzählte, er habe einen entzug gemacht und ihn vorzeitig abgebrochen. dann war horst plötzlich wieder da, saß auf dem sofa bei j. und rauchte zittrig. clean war er nicht, das sah man auf zehn meter. abgemagert wirkte er und noch schlunziger als sonst.
"er hat die letzten tage hier geschlafen", erzählte j., als wir kurz in der küche standen und kaffee kochten. "seine frau hat ihn rausgeworfen und ist jetzt mit diesem anderen typen zusammen. sag aber nichts zu horst, hörst du, das ist ein heikles thema. da rastet er sonst aus."

ich hätte mir nie vorstellen können, dass horst ausrasten oder jemandem etwas zuleide tun könnte. für mich war er ein verträumter spinner, traumatisiert von der zerrütteten ehe seiner eltern und häuslicher gewalt, der er als kind und jugendlicher ausgesetzt war. durch sein strafregister zogen sich neben drogenbesitz kleinere diebstähle und betrugsversuche, was aber alles schon jahre zurücklag. für mich war er ein liebenswerter gauner, gar nicht dumm, aber bestimmt nicht gewalttätig.

das war das letzte mal, dass ich horst in freiheit sah. alles, was ich dann erfuhr, stammt mehr oder minder aus hörensagenquellen. horst hatte sich eine knarre besorgt und seine frau und deren lover erschossen. das urteil fiel aufgrund der tatsache, dass horst im drogenrausch gehandelt hatte und sich anschließend selbst anzeigte, vergleichsweise milde aus: 12 jahre haft.

einmal besuchte ich ihn in der jva.
"man darf nicht bescheißen", mahnte mich horst wieder. "sonst geht alles kaputt. die ehe, die kinder. alles."
ich nickte. dann war meine zeit um und ich ging.
"komm nicht mehr", sagte horst zum abschied. "du gehörst nicht hierher."

horst hatte es gerüchten zufolge irgendwann tatsächlich geschafft, sich von der fixe wegzusaufen. als er 2011 entlassen wurde, begann er, sich langsam zu tode zu trinken. bis er nun starb.

horst war für mich merkwürdigerweise nie horst, der mörder. dass er zwei personen erschossen hatte, gehörte zu ihm wie ein warze oder eine brille oder eine glatze. nicht hübsch, aber es störte nicht, wenn man den ganzen menschen und seine geschichte kannte. ich hatte keine angst davor und auch keine angst um mich. ihn im knast zu sehen war nicht anderes, als ihn bei j. auf der couch anzutreffen. es erstaunte mich selbst. horst blieb horst. ein mensch, der einen schweren fehler begangen hatte. aber immer und zu jeder zeit ein mensch.

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