Sonntag, 27. Juli 2014
papiersoldat
clubbing. als ich zu fortgeschrittener stunde die geheiligten hallen betrete und mich der tanzfläche nähere, stürzt das objekt auf mich zu, fällt mir um den hals und gibt mir einen feuchten kuss auf die wange.
"mensch, vor zehn minuten hab ich auf die uhr geschaut, da war es zwei, und ich dachte, zehn minuten noch, das wäre dann morphine-zeit!"
der überschwang an freundlichkeit überrumpelt mich, nimmt mir aber auch die befangenheit. ich beschließe, das objekt weder zu verhauen noch mit petzen zu drohen noch sonstwie zu verschrecken, sondern es stattdessen als potenziell einzigen künftigen umzugshelfer zu begrüßen. zutreten geht auch später noch. also lächle ich, klopfe ihm souverän auf die schulter und wende mich dann einem vorbeieilenden bekannten zu.

ich gehe erstmal tanzen. am rand stehen das objekt und t. und unterhalten sich. ich bemerke, wie das objekt mich beobachtet. als mir das zu viel wird, gehe ich eine rauchen. im nebenraum treffe ich eine bekannte an der bar und wechsle einige worte mit ihr. unter anderem berichte ich von meinen umzugsplänen.
"aber warum willst du denn weg hier?" fragt sie verwundert.
ich fasse kurz zusammen: job kacke, freundeskreis suboptimal, objektdesaster.
sie nickt:
"dann ist das vielleicht eine gute idee."
wie immer warte ich ein wenig auf einen satz wie "aber schade finde ichs trotzdem", doch darauf kann ich lange warten. die bekannte ist zwar sehr nett, aber auch sie würde mich niemals vermissen.

ich will auf toilette gehen, als das objekt gerade aus selbiger kommt.
"hey morphine, willst du was trinken?"
schlechtes gewissen teil zwei.
"hm, ich weiß nicht."
"dann warte!"
das objekt wuselt zur bar und kommt mit zwei bier und zwei kurzen wieder.
"was das für ein zeug?" sage ich und beäuge die kurzen kritisch.
"orgasmus", grinst das objekt. "baileys und sambuca."
"na dann", sage ich.
wir stoßen an und exen die dinger. ein süßes brennen rinnt durch meinen rachen.
"uarghs", sage ich.
das objekt schaut mich an, erhascht meinen blick, stellt dann aber abrupt sein bier zur seite und sagt:
"ich muss tanzen."
und weg ist es.

die nächsten stunden sehe ich es kaum. es hängt mit t. herum und fast habe ich den eindruck, dass es t. wie einen schutzschild benutzt, weil es weiß, dass ich mich in gespräche selten einmische.
erst gegen fünf treffen wir uns an der bar wieder, wo das objekt von einer unglaublich dicken, aber irgendwie sehr sinnlichen frau belabert wird. als sie mich kommen sieht, steht sie allerdings sofort auf.
"oh", sage ich, "hab ich dir deinen flirt kaputt gemacht?"
"nee", sagt das objekt, "die kenn ich schon länger. die ist masseuse und wollte mich mal massieren."
ich grinse.
"kann ich mir lebhaft vorstellen."
"aber das war mir zu heikel. ich hab ja eine freundin."
"was dich bislang aber wenig gehindert hat."
das objekt schweigt und nuckelt an seinem bier.
"naja", fährt es dann fort, "jedenfalls hat die vorhin voll den terror gemacht, warum ich sie nicht zurückgerufen hab."
"in welchem kontext?"
"na wegen des termins."
"ich dachte, du wolltest keinen termin wegen deiner freundin?" ich male anführungszeichen mit den fingern in die luft, wie es das objekt bislang immer getan hatte, wenn von der gespielin die rede war.
das objekt macht eine unwirsche handbewegung.
"jedenfalls hab ich ihr gesagt, ich hatte keinen termin frei für eine massage. jetzt war sie total pampig."
ich ziehe die augenbrauen hoch.
"du hast eben auch ein sehr liberales verständnis von verbindlichkeit. und wenn du ihr anlass gegeben hast, dass sie mit deinem anruf rechnen darf..."
das objekt schaut sauer.
"aber ich bin ja mit der nicht verheiratet. auf so eine reinwürgenummer lass ich mich nicht ein, schließlich habe ich eine freundin!"
"du sagtest es bereits."

schweigen. ich beobachte das objekt. es wirkt distanziert und klammert sich an seiner flasche fest. ich ahne, dass es sich wieder mal für die kommenden drei bis sechs wochen auf die monogamie-nummer besonnen hat und mir und allen anderen mit vehemenz beweisen will, dass es ihm ernst damit ist.
ich muss in der wunde bohren:
"haste mal wieder nen typ gefickt in letzter zeit?"
das objekt schüttelt den kopf.
"das ist immer so kompliziert. die interessanten muss man immer erst aufklären, und die anderen sind sowieso schwul und verlieben sich dann gleich. das ist mir zu anstrengend geworden. und schließlich..."
"... hast du ja eine freundin", vollende ich den satz, und das objekt schaut dumm.

ich überlege, was ich als nächstes ins gespräch einstreuen soll, als mich das objekt plötzlich antippt und auf ein ausgemergeltes mädchen zeigt, dass in wilden, aber ungelenken verrenkungen vor sich hintanzt.
"guck mal."
"was guck mal? der buimiekranke grashüpfer da?"
"das ist keine bulimie, das ist magersucht."
"das weißt du doch gar nicht, vielleicht ist es auch beides."
das objekt schaut mich belustigt und wissend an, um mir dann zuzuraunen:
"was meinst du, wenn ich jetzt hingehe und sie frage, ob sie für mich im käfig tanzt... macht die das?"
ich zucke die achseln.
"wirf was in den jackpot."
"ein freigetränk?"
"okay. aber das sollte sie selber wählen, wenn du ihr alk aufdrückst, sieht das nach abfüllen aus."
das objekt fixiert das mädchen und fragt mich dann:
"was wetten wir?"
"um gar nichts. du machst ja eh nicht ernst, du bist doch so monogam."
endlich hab ich das objekt bei seinem jägerehrgeiz gepackt.
"okay, wenn es nicht klappt, bekommst du das freigetränk."
"okay."

das objekt nähert sich dem mädchen und sagt etwas zu ihr. sie unterbricht ihre verrenkungen, lächelt sichtlich geschmeichelt und antwortet etwas. nach einigem hin und her bewegt sie sich richtung käfig. das objekt dreht sich zu mir und feixt, während das mädchen zu tanzen beginnt.
nach zwei liedern geht das objekt erneut auf das mädchen zu und fragt es offenbar, was es trinken möchte. dann zieht es brav los, kommt mit einer cola zurück und drückt sie dem mädchen in die hand.

anschließend wuselt es sich durch die menschenmassen zu mir durch, nimmt mich in den arm und beömmelt sich:
"hihihi, ich hab der ne cola gekauft!"
ich zucke die achseln.
"na und, ist doch okay."
"guck doch mal!"
das mädchen steht mit seiner cola herum und trinkt sie nicht.
"das ist ne cola! eine richtige!"
ich schaue immer noch verständnislos.
"MIT ZUCKER! sowas, wovon du immer so herrlich entsetzt sagst, das sei ne hauptmahlzeit!"
ich verstehe:
"sie wollte eine cola light?"
"richtig. und ich dachte, ich tu mal so, als hätte ich keine ahnung."
ich schaue das objekt an:
"du bist ein totales arschloch."
leider klingt das zu freundlich und das objekt fasst es als kompliment auf.

"ich will eine neue wette", sage ich.
"was denn?"
"geh zu ihr hin und frag sie, ob du mal von ihrer cola trinken darfst."
das objekt überlegt.
"nee, das mach ich nicht."
"schisser."
"nee, aber das wäre irgendwie... aufdringlich. erst anfüttern und dann ruhen lassen. wenn ich das jetzt mache, was du vorgeschlagen hast, versau ich mir vielleicht die anknüpfungsmöglichkeit bei der nächsten begegnung."
ich betrachte das objekt und gratuliere mir selbst ganz still und leise: ich habe das objekt genau da, wo ich es haben wollte: in seinem alten element. das freundinnen-gelaber ist ein papiersoldat, hinter dem es sich selbst versteckt. ich beharre also nicht weiter auf der cola-nummer, spotte nur noch ein wenig über mangelnde eier in der hose und ziehe es dann in den nebenraum, der schon ganz leer ist.

"zigarette, bitte", sagt das objekt und schaut mich an. ich gebe ihm eine zigarette und feuer, dann beugt es sich über den tresen und bestellt bionade für mich.
"ich hasse das zeug", sage ich, als das objekt mir die flasche zuschiebt.
"du sollst nicht den ganzen abend alkohol trinken, wenn du was geschnupft hast."
ich bin perplex.
"sieht man das?"
"ein bisschen, wenn man dich gut kennt. deine augen glänzen anders."
ich gebe mich geschlagen und grinse:
"war aber gut."
"ach echt?"
plötzlich beugt sich das objekt zu mir herüber und steckt mir die zunge in die nase.
ich weiche zurück und schubse es weg.
"bah, das ist doch eklig!"
"hmmmmm", macht das objekt genüsslich.

wir schauen uns an. das objekt gönnt mir noch einen moment offenheit, dann sammelt es sich, schlägt die beine übereinander und trinkt weiter an seinem bier.
"wo haste das her?" fragt es, ohne mich anzuschauen.
"sag ich nicht. willste was?"
das objekt zögert.
"nee... nee, lieber nicht. sonst dreh ich total auf, dann... eskaliert der abend am ende noch... irgendwie. außerdem brauch ich das nicht mehr."
ich hab ja nun eine freundin, vollende ich die argumentationsreihe für mich im stillen.

das objekt spielt wieder den coolen, schaut durch den raum und würdigt mich keines blickes.
"ich muss dann auch mal los."
ich sage nichts.
da schenkt mir das objekt wieder seine aufmerksamkeit.
"wollen wir gemeinsam aufbrechen?" fragt es sanft.
vorsicht, sage ich mir. vorsicht. nicht mitschnacken lassen. cool bleiben. tapfer sein.
"okay", sage ich nach einigem zögern.
das objekt holt seine sachen von der garderobe und schließt sein rad auf.
"wohin musst du?"
"zum bus."
"in ordnung, ich bring dich."

schweigend schiebt es neben mir her den ganzen berg hoch. einige male suche ich seinen blick, aber es ist vollkommen zurückgezogen in seinen gedanken. erst am bus macht es den mund wieder auf.
"ja... dann..."
wir schauen uns an.
etwas stört in meinen augen. ich wische.
"nicht, morphine", sagt das objekt ernst und sehr leise. "nicht."
es beugt sich zu mir und nimmt mich in den arm, ganz fest, um mich dann plötzlich loszulassen und beinahe ein wenig von sich zu stoßen. zwei sekunden später sitzt es schon auf dem rad und kehrt mir den rücken zu.

ich wende mich der bushaltestelle zu. alles verschwimmt, die beine zittern und mir wird schlecht. kreislauf, denke ich. aber dann muss ich nur weinen. so sehr, dass mich der busfahrer erschrocken anschaut und mich fahrkartenlos durchwinkt. 20 minuten später steige ich mühsam gefasst an meiner zielhaltestelle aus, um dort festzustellen, dass mal wieder mein rad geklaut wurde. ein letztes zeichen, dass ich in dieser stadt alles und damit nichts mehr verloren habe.