Montag, 31. Oktober 2011
der trip meines lebens
freitag, hamburg hauptbahnhof, 16 uhr, am bahnsteig richtung osten.

"morphine, morphine", kreischt eine kinderstimme durch den bahnhof. dann werden leute vor mir aus dem weg geschubst und das objekt im miniformat stürzt sich auf mich. hinterdrein schiebt sich der schwer bepackte papa, der den objektsohnemann zurückpfeift und schimpft.
"mein freund, das gibt jetzt die gelbe karte. und wenn dann noch eine dazu kommt, dann ist es eine rote, und dann bleibst du hier. auf diese lautstärke und diese umgangsformen hab ich nämlich keinen bock."

der nachmittag des reisetags beginnt also schon gleich mal mit dicker luft. der papa sieht abgehetzt und genervt aus und hat den lütten fest bei der kapuze gepackt. der kleine klammert sich wie besessen an mich und hüpft an mir hoch wie ein durchgeknallter welpe. erst als wir im abteil sitzen, beruhigt er sich ein wenig. dann beginnt er zu erzählen, was seit letztem wochenende alles vorgefallen ist, wobei jeder satz mit einem trommelfellzerfetzendem "weißt du WA-HAS!!" beginnt.

der papa guckt dem treiben noch zehn minuten genervt zu, dann rappelt es im karton. das objekt brüllt einmal kurz, dann ist der kleine still. das ganze abteil glotzt und ich gucke möglichst unbeteiligt. nach dem anschiss wechselt der sohnemann die seite der sitzbänke und krabbelt auf meinen schoß. eine ältere frau schmunzelt:
"na, bei der mama ist das doch immer wieder am schönsten!"
der sohnemann und ich grinsen uns an und schweigen, und ich bekomme zwei nasse jungsküsse auf den mund. das objekt beobachtet uns und kann sich trotz der miesen laune ein lächeln nicht verkneifen. ich möchte zu gern wissen, was es denkt, frage aber nicht nach.

nach zweimaligem umsteigen und unendlich vielen improvisierten spielen landen wir im niemandsland. unser gastgeber holt uns mit dem auto ab, denn im niemandsland gibt es nicht mal einen bus. es folgt die schlüssel- und hundeübergabe, dann fährt der gastgeber mit seiner frau in die flitterwochen.

ich mache nachtessen, während das objekt auspackt und der kleine sofort den riesigen fernseher anvisiert, denn weder mama noch papa haben solch ein wunderbar geisttötendes teil. dann gehen papa und sohnemann eine runde brutal killerspiele spielen, während ich den kleinen hund des gastgebers gassi führe. draußen ist längst stockfinster, und als ich nach einer weile wiederkomme, steht das objekt an der tür:
"mensch, ich hab mir sorgen gemacht, ich hab schon gedacht, es ist sonstwas passiert!"
"was soll mir denn passieren?!"
"keine ahnung, aber dein badewasser wird langsam kalt."
das objekt hat mir ein bad eingelassen und eine grüne blubbersprudelbrause-edel-badetablette der gastgeberin geklaut.
"da sind ätherische öle drin, das ist auch gut für deinen rücken!"
dann sitze ich in der wanne, um mich herum flackern drei dicke altarkerzen und das objekt streichelt zärtlich meinen nacken, bis der sohnemann ruft.

als ich frisch geschrubbt und duftend nach unten komme, ist es schon gleich elf. der sohnemann sitzt gähnend auf der couch. als ich mich daneben pflanze, umschlingt er mich nach papa-manier, während er seine füße beim objekt unter den pulli steckt. derart eingemummelt und bekuschelt schläft er kurz darauf ein. das objekt hebt ihn hoch und trägt ihn sanft und sachte wie einen kostbaren diamanten nach oben in das schlafzimmer. danach kommt es wieder - mit zwei gläsern wein und einem dicken joint. weil das objekt von der ungewohnten fernsehberieselung ebenfalls schon ganz kirre ist, schalten wir alle elektronischen geräte ab und trinken und rauchen und unterhalten uns. gegen halb drei schlummere ich dann zusammengerollt wie eine katze im objektschoß ein. maximale geborgenheit.

samstag, halb eins mittags, hightech-küche im niemandsland.

eine verschlafene morphine betritt die szene, die sich aus einem übermüdeten objekt und einem quietschfidelen sohnemann zusammensetzt - beide sind nämlich schon seit acht uhr morgens wach. das objekt sitzt mit angezogenen beinen auf dem sofa und kifft apathisch einen joint nach dem anderen. ich nehme den sohnemann mit in den garten und spiele sein komisches fantasy-spiel, bis ich keine lust mehr habe und mir der magen knurrt. der sohnemann zieht mich in die küche. ich muss mich hinsetzen, während er mir einen kakao kocht. der junge tritt exakt in die fußstapfen seines vaters.

da betritt das objekt mit glasigem blick die küche und fragt:
"hey, krieg ich auch einen?"
der sohnemann nickt, macht aber eins zur bedingung:
"aber nur, wenn du nicht rauchst, weil das stinkt!"
das objekt hat ein einsehen und stellt das kiffen für die nächsten stunden ein.

und dann haben wir eine richtig gute zeit. das objekt kommt runter von seinem film und geht mit uns an den see. dort sammelt es mit dem objektsohnemann holz, um nacher den kamin zu befeuern. dann jagen wir den hund herum und nehmen noch ein paar pilze fürs nachtessen mit.
zuhause plündern wir zwecks festlichem dinner die tiefkühltruhe des gastgebers und kochen alle zusammen unter der regie des objekts ein feudales menu. es gibt zur vorspeise kleine pizzen mit spinat, pilzen und ziegenkäse, danach fisch mit chilisauce, hähnchen mit maisflakes-kruste und dazu ofenkartoffel, und zum nachtisch waffeln. wir essen bis zum platzen, dem lütten ist von der chilisauce ein bisschen schlecht, und das objekt grinst glücklich und umärmelt mich:
"ich fühle mich gerade sehr wohl mit euch beiden. das ist so ein richtig goldener moment."

satt und zufrieden beseitigen wir das schlachtfeld. das objekt zeigt dem sohnemann, wie man ein ordentliches kaminfeuer macht. es wird bullig warm im wohnzimmer, und die schatten des niederbrennenden holzes flackern zärtlich über die grob verputzten wände. wir kuscheln uns zusammen und gucken film, dann ruft mich die badewanne und den objektsohnemann das bett. ich muss mit gute-nacht-sagen kommen, sonst gibt er keine ruhe. so sitzen wir dann als papa und ersatzmama am bett, lassen uns abwechselnd küssen, bis der sandmann kommt und den kleinen ins land der träume holt.

das objekt ist selbst schon ganz schläfrig geworden, will aber den film noch zu ende sehen. als wir in löffelchenstellung auf dem sofa liegen und weiter film gucken, fühle ich überrascht die objekterektion an meinem po. doch als ich mich dagegen drängele und bereits mein blut im unterleib pochen spüre, sagt es:
"ich könnte es jetzt erzwingen und meine lust abreagieren, aber das wäre so eine halbe sache, weil ich im kopf ganz woanders bin, weil ich gerade aufmache und eher bedürftig als fickrig bin."
also halten wir einander einfach fest und ich beobachte, wie dem objekt irgendwann die grasgrünen augen zufallen. im schlaf glätten sich die tiefen sorgenfalten und die kleinen lachfalten und das gesicht sieht plötzlich wieder ganz weich und jungenhaft aus. es ist ein schönes gesicht, finde ich, obwohl man die schönheit erst auf den zweiten blick erkennt, weil das objekt so abgeschaltet und traurig seinen sexappeal verliert.
und hastenichtgesehn bin ich selbst weg, träume etwas wirres und wache dann davon auf, dass mich das objekt unsanft von der couch schubst. das objekt redet im schlaf und greift nach mir, obwohl es nicht wach wird. also mache ich licht und wecke es, damit wir nach oben ins bett gehen können.

sonntag, elf uhr, morphine im tiefschlaf.

der objektsohnemann stürmt mein schlafzimmer.
"morphine, morphine, SCHLÄFST du noch, du MUSST aufwachen, SOFORT!!"
ich erschrecke zu tode, was ist wohl passiert, brennt das haus oder liegt das objekt mit nadel im arm tot im badezimmer?
der sohnemann schüttelt mir den schlaf aus den knochen:
"AUFWACHEN, AUFWACHEN, AUFWCHEN, komm SCHNELL, komm ganz schnell, BITTE!!"
"was zur hölle ist denn passiert?"
"wir wollen jetzt FRÜHSTÜCK MACHEN!!"
achso, klar.

der tisch im esszimmer ist feierlich gedeckt mit kerzen, blumen, ordentlich gefalteten servietten und zusammenpassendem geschirr.
"hab ich ganz alleine gemacht!" ist der sohnemann stolz wie bolle.
das objekt lächelt mir vom herd aus entgegen und streckt dann die arme aus, um mich an sich zu ziehen, obwohl es vor dem sohnemann allzu viel körperkontakt sonst eher vermeidet. als ich ihm in die augen sehe, fällt mir auf, dass es ganz klar ist.

während der kleine schnell mit essen fertig ist und draußen mit dem hund toben geht, sitzen das objekt und ich noch lange da und reden. das objekt packt sogar vorsichtig zwei bis drei details aus seiner jugend aus. ein bisschen schockiert erfahre ich, dass es sich früher nur schwer unter kontrolle hatte und schon mal jemanden krankenhausreif geschlagen hat.
"jetzt ist das aber ganz anders... so wie am freitag, als ich dem typ hat eine gelangt habe, weil er mich so derbest provoziert hat. da schlag ich einmal zu und es tut mir sofort so leid, dass ich es am liebsten ungeschehen machen möchte. ich seh das ja auch bei den kindern bei uns in der klinik... wie oft frage ich mich, wie die kleinen zu solchen blauen flecken kommen, ob da die eltern mit dem bügeleisen prügeln oder was... und dann erlebe ich immer wieder solche, die nie duschen, weil sie tödliche angst davor haben, sich auszuziehen... wo ich dann schon ahne, was passiert ist... wobei ich mich frage, wie man dieses leid übersehen kann - wie es aber so viele eltern tun... und du bist so machtlos, weil du weißt, wenn sie wieder draußen sind, geht das weiter, bis sie irgendwann die gewalt dann an andere weitergeben."
wie immer kommt das objekt im erzählfluss von einem thema ins nächste. ich höre nur zu und sage wenig, weil es bei ungestörten erzählen am meisten preis gibt. ich warte gespannt, ob das objekt auch seine kindheit mit misshandlung oder missbrauch verknüpfen würde - was ich mir übrigens durchaus vorstellen könnte - doch darüber schweigt es sich eisern aus. ich überlege, ob ich etwas fragen sollte, doch dann kommt schon der objektsohnemann hereingeschossen und will bespaßt werden.

die nächsten stunden versuche ich ein wenig zu arbeiten, doch das entpuppt sich als sinnloses unterfangen. alle zwei minuten sprintet der lütte heran und brüllt "GUCK MAL, GUCK MAL", weil er mir was gemalt, dem hund ein frisur gemacht, ein video in der gut aufgestellten videothek des hauses gefunden oder sonst irgendwelchen quatsch fabriziert hat. nachdem ich das irgendwann zu ignorieren beginne, wendet er sich dem papa zu, der gerade versucht, die zeitung zu lesen.

lesen oder schreiben sind beides echte herausforderungen für das objekt, das sich nah am analphabetismus bewegt - auch wenn es ganze rilke-gedichte, theodor storm und goethes faust zitieren kann. demnach erfordert zeitungslesen volle aufmerksamkeit und darf nicht gestört werden. ich kann die dicken schwarzen wolken schon am horizont heranziehen und sich über dem kopf des objekts sammeln sehen. kurz darauf kracht es zum zweiten mal an diesem wochenende, wobei der kleine sich diesmal tödlich beleidigt fühlt und sich heulend bei mir verkriecht. ich versuche ihm dann irgendwie nahezubringen, dass erwachsene auch manchmal was wollen und dass rücksichtnahme eine tolle sache sei. das perlt allerdings ziemlich ungehört am objektsohnemann ab, bis ich dann zum thema lautstärke komme und ihm erkläre, dass das menschliche so ohr so konzipiert sei, dass leise töne mit mehr aufmerksamkeit wahrgenommen werden als laute und somit das leise meist nicht nur besser ankommt, sondern auch mehr auffällt. obwohl ich zunächst glaube, dass das für kinder viel zu schwer zu begreifen sei, nickt der sohnemann plötzlich interessiert und kann das gesagte logisch mit eigenen worten wiedergeben. ich staune, zumal der lütte auf so einigen gebieten nicht gerade eine leuchte ist.

schließlich ist es kurz nach 17 uhr und wir müssen unsere sachen packen, um den vorletzten zug von der stadt nahe niemandsland zurück in die hektische metropole zu bekommen. wir leisten uns ein taxi, dann hasten wir zum zug. der ist sehr voll mit wochenendpendlern. wir sitzen ineinander geklemmt auf der treppe und spielen ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst und ein buchstabenratespiel, bis wir dann endlich in hamburg am bahnhof stehen.

"musst du jetzt WIRKLICH gehen", fragt der lütte zum x-ten mal und klammert sich an meinem rock fest, während der papa stolz und genervt zugleich lächelt.
das objekt packt mich und küsst mich zum abschied.
"danke für die schöne zeit", sagt es.
"danke dir für die einladung", sage ich.
"danke, dass du so lieb bist!" krakeelt der kleine und umarmt uns beide.

dann drehe ich mich schnell weg und laufe zur u-bahn. muss ja keiner sehen, dass mir bei solch wunderbaren aussagen die augen feucht werden. denn niemand braucht urlaub in einem fünf-sterne-hotel, wenn er ein wochenende wie dieses geschenkt bekommt.

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