Samstag, 19. März 2011
in parallel
an sehr raren tagen haben menschen zutritt zu ihrem paralleluniversum. dort sehen sie dann, welche person sie noch so sind und wie sich deren handeln karmisch in der echtwelt niederschlägt. bezüglich des eintretendürfens muss man ein wenig mit dem gott des paralleluniversums verhandeln. obwohl dieser gott sehr beschäftigt ist (er arbeitet undercover als lude auf dem kiez), gelang es mir, mit ihm in verbindung zu treten. was er mir auftrug, war recht einfach: ich sollte an einen bestimmten, geheiligten ort kommen und am besten jemanden mitbringen, weil das im paralleluniversum so funktioniert wie in jedem ordentlichen swingerclub: paarweise ist es meist billiger.

ich nahm die universumsschleuder und ließ mich mit diversen anderen gestalten, die allesamt sehr betrunken wirkten, am zielort ausspeien. dann suchte ich die beschriebene lokation. es war ein gemütlich anmutender ort mit roten fenstern. auf den tischen standen teelichter und als aschenbecher getarnte opferschalen. es ähnelte einer kneipe, aber ich vermutete, dass es sich um eine diesseitige kulisse handelte, hinter der sich die gesuchte parallelwelt verbarg.

die begleitung des abends war schon da. wie sich herausstellte, war die betreffende person früher schon einmal an diesem ort und wusste daher nicht nur, welches bier empfehlenswert ist, sondern auch, wo sich die toiletten befinden.
nachdem sich unsere unterhaltung zunächst auf kulturelle und ähnliche diesseitige themen beschränkte, fiel uns irgendwann das seltsame benehmen der anderen gäste auf. sie wirkten auf den ersten blick unschuldig, doch die mimik der gesichter sowie gesten und körperhaltung passten nicht zur vermeintlichen harmlosigkeit. und tatsächlich: der raum stand unter einer immensen spannung. die stimmung war zum bersten sexuell aufgeladen.

mein begleiter entpuppte sich als professioneller lippenleser und teilzeit-synchronsprecher und begann, die bewegungen von mündern, augen und händen in unsere sprache übersetzen. uns gegenüber saßen zwei mädchen, eine blonde und eine brünette, zusammen mit einem jüngling mit erheblicher gesichtsbehaarung und entsetzlichem öko-kleidungsstil. die brünette, die ihre wollust unter einer blauen funktionsjacke verbarg, gehörte offenbar zu dem bärtigen jüngling, während die blonde die vordergründige rolle der netten freundin und die hintergründige der verführerin spielte. sobald die deutlich alkoholisierte funktionsjackenträgerin weghörte oder einnickte, hatte die blonde den jüngling am wickel, der von dem angebot ganz offensichtlich vollkommen überfordert war. dies witterten drei fremde junge männer, die sich irgendwann mit phallischen bionadeflaschen neben die blonde pflanzten und ihr offenherzig die klaffenden flaschenhälse präsentierten. doch da beide frauen den öko-jüngling angeierten, standen die drei bald frustriert auf und gingen.

die brünette, nicht dumm und sehr wohl bemerkend, dass der öko-jüngling und die blonde unter gegenseitiger, wenn auch nicht ausgelebter attraktion standen, stand irgendwann auf und sprach ein anderes pärchen im raum an. dabei handelte es sich um ein junges emo-girlie und deren freund, einen als anitatomkraftaktivist getarnten bundeswehrsoldaten, der mir schon zuvor durch sein aggressives auftreten (kennen sie diese los-hau-mir-auf-die-fresse-damit-ich-dir-die-deine-polieren-kann-typen?)aufgefallen war. doch das emo-girl und der antiatomkraft-soldat hatten wohl selbst eine schwere beziehungskrise, die durch das angebot der funktionsjackenträgerin noch verstärkt wurde. der antiatomkraftsoldat wurde laut, sprang auf und rannte richtung ausschank, um dort vermutlich heimlich das gestäng von barhockern und die unschuldige vertäfelung des tresen zu treten. das emo-girl starrte derweil frustriert vor sich hin. wir vermuteten, dass sie wohl heute keinen sex mehr haben würde.

dann erlebten wir eine überraschung. die funktionsjackenträgerin näherte sich meinem begleiter und setzte sich neben ihn. mit einem charmanten akzent begann sie, ihn in ein gespräch zu verwickeln. dann wandte sie sich an mich und wollte wissen, in welchem verhältnis ich zu meinem begleiter stand. bevor ich antworten konnte, sagte der mann an meiner seite:
"wir sind verheiratet."
das erklärte, warum ich im echt-universum keine festen bindungen zustande kriegte. geht ja ganz klar nicht, wenn ich seit jahren schon mit jemand anders verheiratet war. doch wer ist das eigentlich? ich lauschte und erfuhr aus gesprächsfetzen, dass mein mann als arzt arbeitete. das erklärte beispielsweise, warum er mir die getränke bezahlte. ich fragte mich, ob wir wohlhabend sind und kinder haben, doch dies blieb mir leider verborgen. die funktionsjackenträgerin fand, dass wir sehr glücklich aussähen, dann stand sie auf und ging.

wir beobachteten noch ein weile das treiben - menschen, die mit anderen oder wenigstens mit ihren bierflaschen nach unten in den darkroom von einer toilette gingen und dann breitbeinig wankend wieder nach oben kamen - und diskutierten über den gefährlichen unterdruck, der in offenen leeren flaschen entstehen kann. dann beschlossen wir, das paralleluniversum, das uns auch schon langsam zu parallelysieren begann, zu verlassen.

auf der straße fühlte ich mich herrlich aufgeregt-unaufgeregt. dann verabschiedete ich meinen mann (nach so vielen ehejahren nimmt die sexuelle leidenschaft ja bekanntlich etwas ab, sodass man lieber in getrennten betten schläft, zumal man im alter den schlaf braucht) und begab mich zur universums-schleuder.

fragen sie mich nicht, wie ich wieder nach hause kam. es dauerte alles sehr lang. ich kann mich an kälte und ur-schreiende menschen erinnern. der rest fiel in den styx. als ich heute morgen erwachte, fühlte ich mich zerschlagen und hatte leichte kopfschmerzen. die erinnerung aber ist schön und warm und angenehm.