Samstag, 12. März 2011
atomare und menschliche katastrophen
im anbetracht der zustände in japan muss ich an meine kindheit denken, als die radioaktive wolke von tschernobyl über süddeutschland zog und uns die kindergärtnerinnen hektisch aus dem sandkasten zerrten. als wir dann wochenlang nicht nach draußen durften.

ich lebte zu dieser zeit bei meiner oma. die wohnte in einem haus mit garten. in einem unbeobachteten moment büchste ich aus, wollte nachsehen, was passiert, was anders war als sonst. es hatte gerade geregnet und ich stand neben der garage, dort, wo die weintrauben wuchsen und ich starrte auf die tropfen, die über die blätter rollten. es wirkte sehr friedlich, aber ich spürte die bedrohung durch das nicht wahrnehmbare, das in der luft stand und alles durchdrang: laub, holz, blüten. haut, fleisch, knochen.

die katastrophe menschlicher natur in der letzten nacht kam ebenso unerwartet und mit voller wucht. ich hatte einen guten tag gehabt, mit der aussicht auf ein vorstellungsgespräch, als ich abends mit dem objekt telefonierte.
das objekt war ein wenig außer atem, da es sich gerade beim sport drei stunden lang ausgepowert hatte, nichtsdestoweniger aber fidel und voller pläne.
"lass uns doch morgen mal zum baumarkt und dann können wir sehen, was wir in deiner wohnung noch so machen."
nachdem ich dem objekt letzte woche diverse baustellen geschildert hatte, war es wieder ganz in seinem kreativen element.
"aber nicht zu früh", sagte ich. "vormittags sind da immer lauter familien und pärchen-gesocks, da krieg ich kotzkrämpfe."
da das objekt ebenfalls ein eigenbrötler und eulenmensch ist, einigten wir uns darauf, bis 12 uhr auszuschlafen und dann nochmal zu telefonieren.
"was machst du heute noch", frage ich dann.
"der dritte mann ist da, wir wollten ein bisschen ausgehen."
ich selbst, vollkommen erschöpft, hatte beschlossen, an diesem abend brav zuhause zu bleiben. ich wünschte den beiden viel spaß. anschließend guckte ich noch eine französische komödie, ganz nach meinem geschmack, bevor ich dann sehr zivilisiert gegen zwei ins bett fiel.

mitten in der nacht, das heißt, kurz nach sieben uhr morgens, klingelte mein handy. ich war zu tode erschrocken. im dämmerlicht angelte ich nach dem kleinen blauen ding, das mal wieder irgendwie unters bett geruscht war. dann ging ich ran.
am anderen ende der leitung war das objekt.

ich lauschte angestrengt. aus dem hörer drangen unzusammenhängende satzfetzen. zuerst dachte ich, die verbindung sei so mies, doch dann bemerkte ich, dass es kein technisches problem war.
grauenvolles ahnend saß ich kerzengerade im bett.
"was ist los?!"
das objekt schniefte.
"mir gehts so schlecht, ich bin gerade total scheiße draufgekommen... ich hab richtig angst vor mir selber gekriegt."
"wo ist denn der dritte?"
"der schläft. wir sind vorhin eben nach hause gekommen."
das objekt sprach sehr langsam, was mir verdächtig vorkam. das objekt redete nämlich häufig so, um sein lallen zu verbergen.

"du bist doch hackedicht, stimmts?"
das objekt schwieg, dann gab es zu:
"wir haben ein bisschen gefeiert, ja. ein bisschen zu sehr vielleicht."
ich überlegte so scharf wie es mir in meinem schläfrig-komatösen zustand möglich war:
"allein vom saufen kommt man aber doch nicht so scheiße drauf."
als das objekt wieder schwieg, reichte mir das im grunde schon zur gewissheit: es war rückfällig geworden.
"was hast du denn genommen?"
"wir haben so ein paar sachen gemischt..."
"was für sachen?"
"weiß ich nicht mehr..."
das glaubte ich ihm nicht, aber ich war mir bewusst, dass es in diesem zustand ohnehin nicht half, den finger noch tiefer in die wunde zu stecken. außerdem wusste ich ja, dass das objekt alles konsumierte, "was man rauchen kann". das schloss auch heroin nicht aus.

ich merkte, dass ich das objekt nicht mehr erreichen konnte. es saß fest in seinem selbstgebauten drogen-horror-film. die objekt-normalversion, die ich in den letzten zwei wochen kennengelernt hatte, zerschellte in mir.

"ich glaub, ich muss kotzen", nuschelte das objekt schließlich in den hörer.
"dann mach doch, dann wirst du wenigstens ein bisschen alk los."
"und wenn ich nicht kotzen kann?"
"steckst du dir eben den finger in den hals."
das objekt musste ein bisschen kichern.
"du bist so..."
"was?"
"manchmal glaub ich, du bist ein engel."
schön. das half jetzt enorm weiter.
"der engel muss jetzt weiterschlafen", erwiderte ich.
"dann... ja dann... schnuffel mal noch ein bisschen... tschüß..." flüsterte das objekt und legte auf. vermutlich hängte es sich gleich über die kloschüssel. ich hoffte, dass es danach ein wenig ruhe finden würde.

an weiterschlafen meinerseits war allerdings nicht zu denken. ich lag wach und starrte in die sonnenstrahlen, die sich zwischen den vorhangfalten hindurchschoben, und dachte: scheiße.
jetzt geht alles wieder von vorne los. das objekt ist und bleibt mein persönliches tschernobyl.

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