Montag, 29. Juni 2015
kinder
ich sitze mit v. im außenbereich eines restaurants. wir haben getränke geordert und etwas zu essen. am nebentisch hocken drei ischen mit sechs kindern. zunächst ganz zivilisiert, denn alle mampfen. doch als die kinder fertig sind, beschließen sie, laut kreischend fangen um die tische herum zu spielen.

während v. das ganz gelassen nimmt, kocht in mir unbändige wut hoch. ich versuche, mich zusammenzureißen und v.s ausführungen über motorräder zu folgen. doch es fällt mir schwer, denn mein fokus hat sich vollkommen auf die störquelle ausgerichtet.

unser essen kommt. kaum steht der teller, donnert ein dickes kind gegen unseren tisch. die getränke schwappen über, die teller hüpfen. nun bekomme ich echte mordgelüste.
"was guckste denn so?" fragt v.
"ich HASSE kinder", sage ich ziemlich laut, und: "so ein scheißhässliches trampelbalg."
v. lacht: "ach komm. die spielen doch nur. das haste als kind doch auch gemacht. kinder können nicht die ganze zeit stillsitzen."
"ich hätte das nicht gedurft", erwidere ich, "und das finde ich auch vollkommen in ordnung. das stört nämlich. solche kinder lernen später auch keine rücksichtnahme."
v. guckt mich ganz entspannt und ein wenig belustigt an und meint dann: "vielleicht ist das ja das konzept. die rücksichtsvollen sind heutzutage wahrscheinlich eher im nachteil."
dazu fällt mir nichts mehr ein, denn wahrscheinlich hat v. recht.

nicht allzu viel später zahlen die drei ischen und nehmen ihre kinder mit.
"na, besser?" will v. wissen.
"ja", sage ich.
"witzig, man kann dir deine erleichterung geradezu ansehen!"
"ja, kann ich mir vorstellen."
"wie kommt das bei dir? du hast doch auch schon männer mit kindern gehabt?"
"weiß nicht. mit denen kam ich klar. die tochter meiner ersten großen liebe fiel in eine zeit, in der ich kinder noch sehr gut leiden konnte. und der objektsohnemann... der war für mich wie ein körperteil des objekts und alleine deswegen liebenswert."
"das heißt, du mochtest kinder mal... und dann nicht mehr?"
"ja. die aversion fing an, als ich von zuhause ausgezogen war. ich wohnte in einem haus mit vielen kindern und die waren immer laut, während ich lernen wollte. das hat sich dann so gesteigert bis zu dem punkt, an dem ich manchmal das bahnabteil gewechselt habe, wenn da irgendwo kinder rumspukten."

v. lacht.
"meinst du, das hat irgendwelche gründe?"
"vielleicht, weil ich so meine kindheit ein bisschen übersprungen habe."
"wie meinst du das?"
"ich war halt schon immer ziemlich weit. ich war als kind lieber mit erwachsenen zusammen. zum beispiel mit meinem cousin, der zehn jahre älter ist. und dann musste ich mich um meine mutter kümmern, deren launen und anwandlungen unser familienleben ziemlich bestimmt haben."
"das hattest du mal erzählt, ich erinnere mich."
"ich hatte auch nie das bedürfnis, mit kindern zu spielen. ich war lieber alleine und hab mir lesen und schreiben beigebracht. ich fand auch kindergarten beispielsweise scheiße. ich hab mich da nie wohl gefühlt und auch keine freunde gefunden."
"das klingt ein bisschen autistisch. hattest du nie so eine beste freundin, wie andere mädchen das haben?"
"doch. in der dritten klasse kam eine, die war mal sitzengeblieben und schon zwei jahre älter, mit der hab ich viel gemacht. und im sportverein war ein mädchen, das war sehr okay. aber deren mutter arbeitete in einer metzgerei, und ich konnte immer wurst an ihr riechen. deshalb mochte ich nie mit zu ihr spielen gehen."
"du warst also auch als kind schon sehr..."
"irre."
"sagen wir mal speziell."
"mag sein."

"aber freu dich doch, wenn andere kinder einfach glücklich sind!" findet v. "ich hatte auch keine schöne kindheit... ich musste meinem vater die ganze zeit auf dem bauernhof helfen und hatte immer schuldgefühle, wenn ich mal was mit freunden machte, vor allem, als mein vater dann krank wurde und starb. aber wenn kinder in meinem hof spielen, finde ich das total okay."
"weiß nicht... ich gönne denen das nicht, dass sie glücklich sind, glaube ich."
"neid?"
"sowas in der art wird es wohl sein."
"mensch, morphine. das ist doch eigentlich gar nicht deine kragenweite."
"ich weiß. aber es ist wirklich ein sehr, sehr starkes gefühl von hass und abneigung."

v. guckt noch immer ganz betroffen drein.
"deshalb willst du auch keine kinder, hm?"
"ich hätte immer angst, dass ich die nicht lieben könnte. auch wenn ich hin und wieder mal denke, es wäre schon toll, wenn mich später mal wer im altenheim besuchen kommen würde."
"vielleicht gibt sich das noch. die hormone..."
"hör auf. du klingst schon wie meine mutter."
"vielleicht solltest du mal tacheles mit deiner mutter reden. ihr sagen, wie scheiße sie war, als du klein warst."
"dafür ist es zu spät. und für ihre labilität kann meine mutter ja nichts. sie hätte nie kinder haben sollen, aber das löst das problem jetzt auch nicht mehr."

v. und ich zahlen, dann wandern wir durch den regen. wir schweigen, aber ich fühle wieder meine tiefe zuneigung für v., weil er so interessiert zuhören kann und mich zu reden bringt, über emotionen, für die ich mich eigentlich schäme. im grunde wäre v. der ideale partner für mich, wenn da nur ein fünkchen verliebtheit wäre. so ist er für mich wie ein bruder, ein unfreiwilliger soul mate. die kleinste selbsthilfegruppe der welt, nenne ich uns manchmal.

während ich weiter schweige, erzäht v. noch ein paar lustige anekdoten aus seiner kindheit, als er mal einen zugeflogenen wellensittich im hühnerstall fand oder welpen mit der flasche großzog. dann kommt meine bahn und wir nehmen uns in die arme.
"bitte keine kinder töten, falls da welche in deinem abteil sind", sagt v. zum abschied.
"keine sorge, ich hab jetzt ja schon gegessen", witzle ich.
"bis bald!"
"bis demnächst... an einem kinderfreien ort!"

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