Sonntag, 23. Februar 2014
spaßfrei
die lederjacke meldet sich bei mir. offenbar hat sich die fickgeschichte wieder erledigt. ich freue mich, also beschließe ich, nicht darauf herumzusticheln.

"kommst du rüber?", will die lederjacke wissen.
"kann ich machen", sage ich.
"das klingt aber nicht besonders enthusiastisch."
"es ist wochenende, an wochenenden schlägt die depri derzeit wieder voll zu."
"och nee!"
"ich kann auch zuhause bleiben", sage ich, "mir ist auch nicht nach fröhlichen leuten, die besoffen und kotzend über den kiez stolpern."
"jetzt kommste erstmal her", beschließt die lederjacke.
"ich will dir aber den abend nicht verderben."
"das WIRST du nicht. versprochen. ich freu mich auf dich."

die bahn ist voller samstagabend-menschen, sie gröhlen und lachen. ich fühle mich wie vom mars. jetzt reiß dich mal zusammen, alte, sage ich mir. doch es hilft nicht. die lärmkulisse scheint immer lauter zu werden, die menschen immer näher zu rücken, die lichter immer gleisender zu werden. als ich endlich aussteigen kann, rast und stolpert mein herz, ich bin schweißgebadet und zittere. ich renne durch die hochhausschluchten so schnell ich kann und presse dann den daumen auf die klingel der lederjackenwohnung.

die lederjacke öffnet die tür und nimmt mich in die arme.
"was ist denn passiert, du bist ja totenblass", sagt sie zur begrüßung.
"in der bahn waren so komische leute. kann ich heute irgendwie nicht ab."
"hat dir jemand was getan? hat dich wer bedroht?"
"nee, war nur so... komisch. im kopf."
die lederjacke tätschelt mir die schulter und schiebt mich dann in die küche.
"jetzt trinken wir erst mal was."

während ich mich an einem glas cola-rum festhalte, leert die lederjacke zwei bier, ein glas rotwein und mehrere flachmänner. die lederjacke redet. ich werde immer stiller und merke, wie mich etwas aus dem hier und jetzt abkoppelt. nichts bleibt außer meinem mechanischem lächeln. das gefühl innerer einsamkeit wird gigantisch und übermächtig wie ein expandierendes vakuum.
"hey", sagt die lederjacke irgendwann, "quatsch ich zu viel? langeweilst du dich?"
"überhaupt nicht", sage ich und fühle mich furchtbar schuldig, weil ich gar nicht wirklich da bin und die lederjacke das nicht verdient hat.

die lederjacke betrachtet mich prüfend. als sich unsere blicke treffen, steigen mir die tränen in die augen.
"mann morphine", sagt die lederjacke erschrocken, "du weinst ja."
ich schweige und versuche krampfhaft, nicht loszuheulen. die lederjacke ist nicht das objekt. ihre stärke liegt auf der sachebene, nicht auf der emotionsebene. meine verzweiflung verunsichert sie. verzweifung aber ist wie ein raubtier: sie kann deine unsicherheit riechen. das gibt ihr macht. sie lacht über deine mit hilfloser logik vorgetragenen argumente.

natürlich will die lederjacke wissen, warum es mir wieder so schlecht geht. ich berichte, was in den letzten wochen vorgefallen ist.
"scheiße", findet die lederjacke. "dass es bei dir aber auch nie mal länger gerade läuft. nach dem ganzen aufriss, den du gemacht hast."
ich sage nichts.
"mach doch was anderes", drängt die lederjacke.
"will ich ja. bloß im moment verlassen mich die kräfte. es überfordern mich gerade schon wieder so einfachste dinge wie u-bahn-fahren."
"nimm dir das nicht so zu herzen", findet die lederjacke. "du bist doch so ne kluge frau."
"mein komplettes selbstwertgefühl hängt davon ab, ob ich etwas möglichst überdurchschnittliches leiste oder nicht."
"das ist doch quatsch."
"weiß ich alles! aber ich kann es nicht empfinden. alles, was ich anfasse, endet im chaos: jobs, beziehungen, freundschaften. mein misstrauen wird mit jeder schlechten erfahrung größer. das ist ein ganz schlimmer automatismus und ich weiß nicht, wie ich den stoppen kann."
"ach komm. das was du erlebst, ist auch einfach nur gigantisches pech. ich kenne niemanden sonst, dem so viel mist passiert wie dir."
"ich glaube, ich bewirke das. der mist findet mich. etwas ist an mir, was das alles auf mich fallen lässt. und ich kann den fehler nicht finden. das macht mich echt fertig."
"da ist doch kein fehler an dir, mensch."
"ich glaube schon. ich bin inzwischen sogar ziemlich überzeugt davon."
die lederjacke schüttelt den kopf.
"haste mal 'matchball' gesehen?" frage ich.
"da geht es genau um diese frage. der moment, in dem der ball beim tennis das netz berührt und es vom glück abhängig ist, ob er auf die eine oder andere seite fällt. der film handelt davon, dass einige menschen privilegiert sind und andere einfach kein glück haben und sich immer tiefer in ihrem schicksal verstricken. und wenn sie ein stück vom glück erhaschen, reißt es sie nachher um so tiefer ins unglück. sie können es sich nicht zu eigen machen, sie beginnen schwerwiegende fehler machen und fallen tief."
"schau dir doch nicht so einen scheiß an."

ich verstumme. es macht keinen sinn, weiter zu diskutieren. das gespräch strengt mich an, ich werde körperlich müde. vom hinterkopf her nähert sich bedrohlich die wohlbekannte schwarze wand, die mich hin und wieder auch unvermittelt in ohnmacht fallen lässt.
"ich muss nach hause, ich muss schlafen", sage ich mit letzter kraft.
"trink doch noch was", sagt die lederjacke verzweifelt. "ich würde so gerne mit dir tanzen gehen."
"ich kann nicht", sage ich.
die lederjacke steht auf und kommt zu mir herüber, nimmt mich in den arm. die tränen beginnen zu laufen.
"das tut mir alles so leid für dich", sagt die lederjacke.
"ich muss gehen", flüstere ich.

die lederjacke beobachtet schweigend, wie ich in meine schuhe und die jacke schlüpfe.
"ich bring dich zur bahn", sagt sie, und ich bin ihr unendlich dankbar dafür.
"schreib mir einen sms, wenn du zuhause bist", schärft mir die lederjacke ein.
ich nicke.
"tut mir leid."
"hör doch auf."
"ich hab dir den ganzen abend kaputt gemacht."
"hast du nicht."
"hab ich doch."
"also wenn du das bedürfnis hast, etwas gut machen zu müssen, dann will ich, dass wir uns demnächst mal wieder so richtig zusammen besaufen", scherzt die lederjacke.
ich kriege ein kleines lächeln zustande.
"okay."

irgendwie komme ich nach hause, während die schwarze wand langsam das bewusstsein verdunkelt. als ich im flur stehe und die schuhe ausziehe, ist sie ganz da. ich falle angezogen auf mein bett und bin weg.

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