Sonntag, 13. Mai 2012
the heat is on
die letzten wochen die luft angehalten. war ja viel zu tun. an lebensberührungspunkten, die ganz woanders lagen als im club oder im freundes- und affairenkreis. die ernte einfahren, da, wo es überhaupt noch lohnt, und berufliche sackgassen und einbahnstraßen abbrechen. zukunftsplanung betrieben, sehnsüchte eingestanden, distanz geübt und eine freundschaft aufgekündigt.
ich bin so frei. der herr, die dame, sie mögen es mir verzeihen, dass ich derzeit im inneren exil lebe.

ins größte selbstregulierungschaos funkte mir das objekt, das die ankunft der küchenaccessoire-lieferung verkündete. gestern, nach einem langen und anstrengenden tag, rang ich mich dann durch, sie abzuholen. ich radelte kurz nach beinahe-nebenan in die romantische sozial-siedlung und erwischte das objekt, das gerade von der spätschicht kam, noch am aufzug. eine ganze überstunde hatte es gemacht, erzählte es mit leuchtenden augen, und dass es ihm nichts ausmachte, es sei ja so ein schöner job. ich staunte. noch bevor ich fragen konnte, ob es sich was eingeschmissen hatte, klingelte das objekt-handy. die objekt-mama rief aus ossiland an. das objekt schäkerte und lachte mit ihr, dass mir zwischenzeitlich zweifel kamen, ob es sich tatsächlich um seine mutter handelte, doch dann fiel zweimal das wort "mama" im eindeutig nichtironischen kontext.

oben, als es den zweiten flur aufschließen musste, sah mir das objekt erstmals in die augen und nahm mich begrüßend in die arme. es wirkte vollkommen klar, selbstsicher wie selten und überhaupt irgendwie sehr gesund, sofern man dieses wort mit dem objekt in zusammenhang bringen darf. ich fühlte mich plötzlich ziemlich klein und doof daneben.
"du bist ganz anders", rutschte es mir heraus.
das objekt lächelte wissend und bat mich dann förmlich herein in sein winziges reich.

wir regelten zunächst das geschäftliche, dann holte ich zwei bier, die ich mitgebracht hatte, aus der tasche.
"ein kleines dankeschön für die kriminellen freundschaftsdienste."
das objekt strahlte, als hätte ich ihm den lotto-jackpot ausgehändigt.
"das ist ja cool, ich hab überhaupt keinen alkohol mehr im haus. wenn du noch ein bisschen zeit hast, dann lass uns das doch gleich zum anlass nehmen. trinken wir zusammen eins!"

das objekt verrückte sessel und tisch so, dass wir zu zweit sitzen konnten und machte kerzen an. dann drehte es einen joint.
"das ist die kostprobe, sozusagen", meinte es und holte dann zu einem längeren exkurs über anbauort und ernteverfahren aus. ich fühlte mich fremd und verlegen, unfrewillig gast, fragte mich heimlich, was das objekt so empfand und wie viel dieser offensichtlichen souveränität show war.

dann nippte das objekt an seinem bier und sagte:
"ich bin ja so stolz... das ist mein erstes alkoholisches getränk für diese woche. das zeigt mir: hey, ich kann auch ohne!"
"und dass, wo du immer so viel getrunken hast."
"seitdem ich hier wohne, irgendwie kaum mehr. höchstens zum feiern. ich kiffe, aber alkohol... das war so ein punkt, an dem ich neulich ankam, als ich im supermarkt an der kasse stand: ich will so nicht enden."
"enden wie wer?"
"wie mein vater."
mir blieb der mund offen stehen. das objekt redete sonst nie von seinem vater. "ich habe keinen vater", sagte es sonst höchstens, oder "mein vater ist für mich gestorben."
in mir fielen mehrere groschen.
"dein vater ist..."
"alkoholiker", beendete das objekt meinen satz.

wir starrten gemeinsam aus dem fenster in die birke, die in der nacht raschelte und ab und an das glas berührte. dann erzählte das objekt die kurzfassung seiner kindheit. vom immer abwesenden da besoffenen vater, der den jüngeren bruder ganz eindeutig vorzog und der mutter, der es immer nur um die objektive sportlerkarriere ging.
"ich war der letzte arsch, zuhause und auch in der schule. und das schlimmste war, als sie mich dann in dieses internat gesteckt haben. zum glück hatte ich meine oma... mit meiner oma bin ich neulich die grenze abgefahren, die dörfer ihrer kindheit... und dann haben wir das haus gefunden, in dem sie als kind gelebt hat..."
das objekt sprang auf und begann zu kramen. dann holte es eine große schieferschindel hervor.
"das ist von ihrem haus... das habe ich mitgenommen als andenken."
die objekt-augen leuchteten, während ich aus dem staunen nicht herauskam.

"du bist ein ganz anderer mensch geworden", blinzelte ich schließlich. "wie du redest... dein auftreten, deine haltung... dein blick..."
"naja... meine komplexe hab ich alle noch", lachte das objekt. "du ja auch, da kommt man nicht so fix raus."
"meine komplexe, soso."
"du magst dich nicht."
"das stimmt so nicht ganz."
"aber teilweise."
"na und?"
"so kann man dich ganz schwer lieben, morphine", sagte das objekt da. "zumindest muss man so stark sein und es schaffen, deine zweifel an dir nicht zum zweifel an deiner liebe zu machen. du gehst immer, wenn dir jemand nahe kommt... zumindest innerlich. vor allem, wenn jemand selbst sehr unsicher ist, wird er sich bei dir vielleicht... alleingelassen fühlen."
ich schwieg.
"ich wollte dir jetzt nicht zu nahe treten", sagte das objekt und lockerte seine therapeuten-haltung.
"nein, schon okay, ist ja nichts, was ich nicht weiß."
"aber du kannst es nicht umsetzen, was?"
"irgendwie nicht", sagte ich matt. da rutschte das objekt ganz nah an mich heran, bis seine knie die meinen berührten, zog mich ein stück zu sich und legte seine wange an meine.

"was sagt deine zeit?" fragte das objekt dann.
"soll ich gehen", fragte ich peinlich berührt.
"neinnein", wehrte das objekt ab. "ich dachte vielmehr gerade, dass du doch vielleicht bleiben könntest. wenn es geht und wenn du dir das vorstellen kannst."
"warum?"
"nicht, dass ich notgeil wäre, aber... weil du es eben bist. weil ich es mir wünsche und es mir gerade schön vorstelle, neben dir einzuschlafen."
hm! soweit hatte ich in meinen kühnsten träumen nicht gedacht.
"wir können ja mal sehen", sagte ich diplomatisch. "wenn ich gleich zu bekifft bin, um noch radzufahren, überlege ich es mir."

das objekt kramte alte brettspiele aus einer kiste, dann saßen wir auf dem bett zwischen karten und würfeln und einem schachbrett. wir spielten alles mögliche, und ich gewann beinahe jedes mal.
"revanche", rief das objekt ein ums andere mal. "du kränkst meinen männlichen stolz!"

sehr spät und vom vielen lachen ganz erschöpft räumten wir dann alles wieder in die kiste. am boden der kiste fand ich einen papierhaufen.
"was ist das denn", fragte ich das objekt. "ein ratespiel?"
"nee, das ist ein iq-test", sagte das objekt.
"so einer aus dem internet oder ein richtiger?"
"ein wissenschaftlicher", sagte das objekt.
ich blätterte und blätterte. da hatte jemand notizen gemacht. am ende stand die auswertung: 142.
"uiuiui", sagte ich. "da haste aber kluge patienten. wer hat den denn machen müssen?"
"ich", sagte das objekt da.
ich war sprachlos.
"naja, ich konnte das auch erst nicht glauben", meinte das objekt. "ich hab dann noch mal einen anderen gemacht, der noch umfassender ist und zwischen den unterschiedlichen intelligenzen, die man so haben kann, differenziert. da hatte ich dann 138."
ich konnte es noch immer nicht fassen.
"mein einziger großer schwachpunkt ist die handlungsintelligenz", berichtete das objekt. "heißt also, ich denke klug, handle aber nicht so. deshalb bin ich wahrscheinlich der, der ich eben bin."

gegen halb drei uhr nachts warf das objekt einen film in den dvd-player. wir saßen auf dem bett, rauchten und mümmelten vollkornbrote mit tomate-mozzarella, die das objekt in mundgerechte häppchen geschnitten hatte. irgendwann rollte sich das objekt zur wand und bewegte sich nicht mehr. es war eingeschlafen. ich machte den fernseher aus und die übliche gutenacht-kerze an, holte mir eine zweitdecke und nutzte die freie hälfte des bettes. ich schlief tief und fest, komplett angezogen genau wie das objekt und wurde erst am frühen nachmittag wach, weil es warm und stickig war und das objekt sich über mich gerollt hatte.
"wie spät isses denn", murmelte das objekt im halbschlaf.
mein handy zeigte mir 13:27 uhr.
"halb fünf", sagte ich todernst.
"oh mein gott", fuhr das objekt auf.
leider muss ich bei meinen eigenen scherzen immer zu früh kichern.
"das stimmt gar nicht, oder", durchschaute mich das objekt rasch. ich lachte, und das objekte boxte mich. dann kniete es über mir und ich registrierte den ersten gefährlichen moment.
"hunger", sagte ich schnell.
"ich mach frühstück", sprang das objekt eilfertig auf.

während das objekt den tisch deckte, tauchte ich, klebrig und verschwitzt wie ich war, erst einmal in der badewanne unter. dann plötzlich kam das objekt mit dem guten-morgen-joint herein und ließ sich auf dem pott nieder, um mir aus seinem neuen buch vorzulesen. ich zog flux die knie ans kinn und bewegte mich nicht mehr, damit keine löcher im schaum entstanden. obwohl es im wasser mollig warm war, begann ich vor anspannung innerlich zu schlottern.
"also entspannt baden sieht irgendwie anders aus", kritisierte das objekt bald darauf meine körperhaltung.
"das wasser ist schon ein bisschen kalt", schwindelte ich.
schwupps, beugte sich das objekt über die wanne und ließ heißes wasser nach.
"besser?"
"jaja."
"du hast wimperntusche im gesicht", stellte das objekt richtig fest.
"ich hab mich gestern nicht abgeschminkt."
das objekt verließ das bad und kam mit einem waschlappen und watte wieder.
"augen zu", befahl es mir und krempelte die hemdsärmel hoch. dann entfernte es mit der watte mein rest-make-up und wusch mir anschließend das gesicht, hals und schultern. ich kam mir vor wie in der badewannenszene bei "secretary".
"du hast so ein schönes gesicht", fand das objekt. "ich glaube, du wirst auch mit 80 noch gut aussehen."
dann verließ es ziemlich abrupt das badezimmer. brandgefährliche szene nummer zwei gebannt.

nach dem frühstück und dem dritten joint, als die welt wieder angenehm in die ferne rückte, räumten wir auf und lüfteten.
"ich würde dann mal gehen", sagte ich.
"hast du noch was vor?" fragte das objekt.
"naja... ich kann ja nicht noch ewig hierbleiben."
"nicht ewig... aber so bis kurz vor neun? dann hab ich nachtschicht und wir könnten zusammen mit den rädern los", schlug das objekt vor.

also kuschelten wir uns wieder ins bett und machten musik an. nach einer weile zog mich das objekt an sich. ich suchte vergeblich nach einem feuerlöscher für den brandgefährlichen moment nummer drei. doch wenn ich ehrlich war, hatte ich nach fast 24 stunden in der objektiven pheromonwolke gar keine lust mehr auf feuerlöschen.

als wir vor der objekt-arbeitsstätte standen und uns verabschiedeten, meinte das objekt:
"was für ein teufelsritt, du weib. und ich muss jetzt arbeiten!"
ich grinste.
"ich hab ja urlaub."
"stimmt, du bist ja auch gleich nicht mehr da."
"jupp."
"dann wünsch ich dir was.
"ich dir auch."
"das kopfkino jetzt gleich auf arbeit nimmt mir ja keiner."
"dann behälst du mich ja in guter erinnerung."
"das war doch hoffentlich nicht das letzte mal!"
"you never know."
ich schwang mich in den sattel und machte, dass ich weg kam.

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