Dienstag, 1. Mai 2012
odyssee in den mai
gestern bekam ich besuch von mr. shyguy. der hatte eine überraschung für mich:
"das objekt will, das wir vorm partymachen noch bei ihm vorbeikommen, einen rauchen und ein bisschen vorglühen."
ich war erstaunt.
"ich war noch nie da bei ihm in seiner merkwürdigen unterkunft."
"ja, ich doch auch nicht. deshalb müssen wir es jetzt auch anrufen, damit er uns sagt, wo wir gleich hinmüssen."

ich war noch immer überrascht und überlegte, ob ich das wollte. doch mr. shyguy nahm das ruder in die hand. er schnappte sich mein kreischviolettes wählscheiben-telefon und wählte eine nummer, die ich nicht kannte.

mr. shyguy ließ es dreimal durchklingeln. niemand ging ran.
"okay", sagte ich, "das wars. wir fahren alleine in den club."
"wart doch mal", sagte mr. shyguy.
und plötzlich klingelte das telefon.
ich sprang auf und riss den hörer von der gabel:
"ja?!"
"morphine", sagte das objekt warm. "du bist das."
"mr. shyguy ist hier und wir würden gerne wissen, wo du wohnst", sagte ich gereizt.
das objekt begann lang und umständlich den weg zu beschreiben, bis ich es unterbrach:
"die adresse. mir reicht die adresse. den rest sagt mir g. maps."
das objekt sagte straße und hausnummer.
"steht dein name irgendwo am klingelschild?" fragte ich, weil ich die objekt-schlampigkeit kannte.
"äh, nein", stammelte das objekt. "aber ich komme runter und warte auf der straße auf euch. ich bin in 20 minuten da."
"15", widersprach ich. "so weit ist das nicht."
als ich auflegte, sagte mr. shyguy, der das objekt sonst hemmungslos bewunderte:
"der typ ist manchmal nicht so intelligent, oder?"
ich prustete los.

dann schlüpften wir in schuhe und mantel und wollten los. da klingelte das telefon abermals. es war noch mal das objekt.
"du, morphine, ich hab wein für dich gekauft... und ich hab bier... und wodka. willst du noch irgendwas?"
"nein", sagte ich. "das sollte für das stündchen, das wir vorhaben zu bleiben, reichen."
ich legte auf. mr shyguy war verwundert und fragte:
"was ist denn?"
"er wollte mir nur noch mal aufzählen, was an getränken da ist."
"hä?"
"naja, du hast ja vorhin schon festgestellt: manchmal ist das objekt nicht so intelligent."

dann saßen wir im auto. mr. shyguy hatte hunger.
"lass uns mal noch wo an die tanke fahren", sagte er.
"dann kommen wir aber zu spät. wir sind sowieso knapp. das objekt steht bestimmt schon auf der straße. und wie du vielleicht bemerkt hast, regnet es. also lass uns da schnell hin und dann frag das objekt doch, ob es was kocht."

kurze zeit später standen wir vor einem hochhauskomplex.
"das ist es?", sagte mr. shyguy ungläubig. "das sieht aus wie ein krankenhaus."
"doch, das ist es", sagte ich und zeigte richtung eingang: "da steht das objekt."
das objekt winkte uns, dann nahm es erst mr. shyguy und danach mich in die arme. es war ganz nass.
"willkommen", sagte es.
"du tropfst", begrüßte ich es.
"kommt schnell rein", ärmelte das objekt uns beide unter und zog uns zum aufzug.

als wir in der oberen etage ankamen, war der flur kreischblau gestrichen.
"oh mein gott", sagte ich.
"sag nichts", grinste das objekt. "es hätte schlimer kommen können. es gibt auch rosa flure!"
das zimmerlein selbst war ganz annehmbar. das objekt mit seinen innenarchiktonischen fähigkeiten hatte das beste daraus gemacht. bis auf den teppich und den hässlichen schrank im mikro-flur sah es aus wie in der objektwohnung. es gab sogar eine badewanne.

"cool", sagte ich halb überzeugt.
"hast du was zu essen", haute mr. shyguy das objekt an.
das objekt begann im schrank zu wühlen und holte schoki und kekse hervor.
"keine schoki", sagte ich, "mr. shyguy ist auf diät."
"wenn ich was kochen soll, müssen wir rüber in die gemeinschaftsküche", sagte das objekt.
wir folgten dem objekt über den flur in die hässliche küche, die aussah wie eine mischung aus jugendherberge und knastkombüse.

eine halbe stunde später saßen wir über einem thai-eintopf, tranken wein und bier und ließen es uns gut gehen.
das objekt schaute mich über einen löffel dampfender auberginen in chilisud an und sagte dann:
"ich hab dich vermisst, madame. ich hab dich wirklich vermisst. die goldenen momente, die inseln mit dir..."
mr. shyguy schaute gespannt zwischen dem objekt und mir hin und her.
ich schluckte die aufgehende sonne in mir mit scharfem hühnchen hinunter und zuckte dann lapidar die achseln.
"du hast nicht mich vermisst, du vermisst den zustand, den du mit mir hattest. sorglosigkeit. freiheit. exzess."
das objekt sagte nichts mehr, holte dann umständlich den tabak aus der tasche und begann, einen joint zu drehen.

"wohin wollen wir denn nun heute?" fragte mr. shyguy.
"keine ahnung", sagte ich.
das objekt wollte auf eine fetisch-party.
"boah. ich glaub, da hab ich keine böcke drauf", sagte ich.
"ist aber sehr schön da", sagte das objekt.
"allerdings hätte ich auch viel mehr lust auf was anderes", sagte mr. shyguy. "ist da nicht irgendwo eine 80er-party?"
"ja, komm, lass uns da hinfahren", sagte ich. "ich muss mal andere leute sehen. nicht immer nur so ne freaks."
"gut", sagte mr. shyguy. "dann setzen wir das objekt bei seiner party ab und fahren dann weiter."
"langweilig!" zog uns das objekt auf, "dabei ist da so gute musik!"

und los ging es. das objekt und ich waren zu diesem zeitpunkt schon reichlich angeschossen und hatten die wodkaflasche halb geleert. ich schwankte.
"das ist der zustand, den ich normalerweise erst am ENDE eines abends erreicht haben möchte", säuselte ich.
während mr. shyguy fuhr, saßen das objekt und ich auf der rückbank des wagens. das objekt schaffte auch die zweite hälfte der flasche noch bevor wir überhaupt in clubnähe kamen. es kuschelte sich an. mir war schwindelig und leicht übel.
"wenn ich kotze, kotze ich dich an", sagte ich zum objekt.
"du kotzt nie", sagte das objekt mit selbstverständlichkeit.
das hatte es sich also gemerkt.

wir kamen bei der objekt-wunschlocation an.
"viel spaß beim spielen", sagte ich, und das objekt griff sich grinsend in den schritt.
dann stiegen mr. shyguy und ich wieder ins auto und fuhren weiter.

als wir bei unserem club ankamen, stand eine endlose schlange an der tür.
"nein!" rief mr. shyguy.
"da stellen wir uns nicht an", sagte ich, "da sind wir ja übermorgen noch nicht drin."
"und nun?"
"da gibts noch woanders sowas ähnliches. ist allerdings am anderen ende der stadt."
"ist das gut?"
"och, du, so oft war ich da noch nicht, aber als ich da war, wars immer okay. es ist halt ein bisschen teurer."
"wie teuer?"
"so sieben, acht euro denk ich. auf jeden fall aber billiger als eine fetisch-party!" meinte ich.
"egal, da fahren wir jetzt hin."

gesagt, gefahren, eine halbe stunde später waren wir am ziel. vor dem club gab es keine schlange. warum das so war, erklärte sich am eingang: der spaß sollte 15 euro kosten.
"hattest du nicht gesagt, es sei deutlich billiger als eine fetisch-party?!" entsetzte sich mr. shyguy.
"sollen wir wieder fahren? wir können auch immer noch auf den kiez."
"nein", entschied mr. shyguy, "jetzt sind wir schon mal da! außerdem wollte ich schon immer mal wieder auf eine 80er-party."

nachdem ich den eintritt gelöhnt hatte, hatte ich genau noch zwei euro in der tasche.
"ey, ich kann mir hier nicht mal was zu trinken kaufen", sagte ich, "nicht, wenn ich nachher noch mit der bahn nach hause will."
"ist auch besser so", fand mr. shyguy im anbetracht meines zustands.
ich schubste ihn und lachte.

mein angeheiterter zustand sollte sich innerhalb kurzer zeit ins gegenteil verkehren. die party zu besuchen entpuppte sich als fehlentscheidung des jahrhunderts. die musik war halbwegs okay, aber die anlage schepperte blechern. ich fühlte mich nach zwei liedern kurz vorm tinnitus.

davon abgesehen waren wir deutlich die jüngsten. die partybesucher waren schätzungsweise zwischen 35 und 55, meist unterwegs als paar. männer vom typ "bärchen", die sich in karohemden, jeans und turnschuhen ultimativ hip fühlten und sich aufgeregt die grauen bärte schubberten, wenn eine guterhaltene vierzigerin im leo-look an ihnen vorbeiwackelte.
"ich fühle mich optisch vergewaltigt", sagte mr. shyguy.
"die leute sehen aus wie meine eltern", fand ich.
"und guck mal wie die tanzen", zeigte mr. shyguy auf einen pulk von tanten, die unkoordiniert gegen den rhythmus hoppelten.
"sieht aus wie schüttellähmung", sagte ich.

eine halbe stunde später saßen wir geknickt an der bar. dann kam eine sms vom objekt an. das feierte offenbar vollgekokst bis in die haarspitzen gerade eine art orgie mit irgendwelchen weibern.
"boah", sagte ich, "also dass wir da nicht mit sind, das war die schlimmste fehlentscheidung meines lebens."
"und das viele geld, das wir jetzt ausgegeben haben!", jammerte mr. shyguy.
"und der schreckliche anblick all dieser tanten und onkels..." jaulte ich weiter.
"und diese billige anlage..."

es musste etwas passieren. nüchtern sowie ernüchtert stand ich auf, packte mr. shyguy an den schultern und sagte:
"wir gehen. wir nehmen eine sparkasse mit, ich hole geld und wir gehen jetzt auch auf diese party."
"das geht nicht", sagte mr. shyguy zerknirscht.
ich seufzte gereizt:
"stell dich mal nicht so an!"
"das hat damit nichts zu tun", beharrte mr. shyguy. "ich habe das falsche outfit an."
ich sah an mr. shyguy herab. hemd, jeans, sneakers - gut, das ging nun wirklich nicht.
"dann lass uns wenigstens noch auf den kiez!"

wir verließen den ort des grauens, holten geld und frischen alkohol und stürzten dann auf einer walpurgisnacht-party im metal-keller ab. dort waren junge leute, es ging lustig zu und als gegen ende des abends immer mehr elektromusik lief, fand auch ich den weg auf die tanzfläche. zwei stunden später spürte ich sämtliche knochen und bandscheiben, war schweißgebadet - und schon wieder nüchtern. doch ein blick auf die uhr zeigte mir: es war ohnehin bereits nach sechs uhr morgens. mr. shyguy hatte sich schon vor einiger zeit verabschiedet.

ich wankte mit einem heavymetal-freak zur bushaltestelle, kaufte vom letzten geld einen kaffee und eine fahrkarte und war eine gute halbe stunde später zuhause - tödlich erschöpft, aber mit dem gefühl, das beste verpasst zu haben.

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exzess.

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