Donnerstag, 12. Mai 2011
chaos, delight and chaos again
die objektgeschichte ist wie ein galoppierendes pferd, das unerwartet wild ausschlägt und mich dabei immer empfindlich in die magengrube trifft. pferdefußreich eben.

gestern nachmittag, nachdem keine objektseitige absage kam, machte ich mich radelnderweise auf den weg nach a. ich war eine halbe stunde zu spät, doch als ich ankam, war noch keine spur vom objekt zu sehen. ich wusste, es war draußen unterwegs. ich ärgerte mich kurz, dann rief ich an und erwartete die mailbox. aber das objekt schien das handy gerade zwischen den fingern zu halten. zwischen lauten atemzügen erfuhr ich, dass es gerade an der araltankstelle war, weil es keine milch mehr hatte. es war 17 uhr, alle läden hatten geöffnet, aber das überschuldete objekt kaufte an der tanke ein. nun gut. ich bekam magenkrämpfe und betete, es möge keine schlange an der kasse sein, damit das objekt nicht in versuchung geriet, den spirituosenstand genauer zu betrachten.

da die haustür offenstand, setzte ich mich ins kühle treppenhaus und wartete. bei betrachtung meiner umgebung fiel mir auf, dass das ganze haus objektcharm hatte: alt, verschnörkelt, stilbruchreich und ziemlich verkommen. im hausflur lag müll und baustellenschutt, die fenster waren fast undurchsichtig schmutzig und die fliesen sprangen von den wänden. ich mochte es hier, weil es passte. im grunde durfte das objekt gar nirgendwo anders wohnen.

drei minuten hatte das objekt gesagt. die araltanke war am anderen ende der straße, ich rechnete daher eher mit fünf minuten, auch wenn das objekt ja sportlich unterwegs war.
fünf minuten vergingen. dann zehn. ich bekam einen kalten arsch auf den stufen. verdammt, wo blieb das objekt?
nebenan öffnete sich eine tür und eine verwirrt dreinschauende alte frau starrte mich an. die dachte sich wahrscheinlich auch ihren teil, falls sie die mädelsfluktuation hier mitbekam. mich beäugte sie ganz unverhohlen neugierig, als wolle sie mich in den objektharem einordnen. ich grüßte freundlich. dann sprach sie mich an:
"ist der junge herr noch nicht wieder da?"
"nein, warum?"
"der wollte mir doch medikamente vorbeibringen."
meine alarmglocken schrillten. aber das objekt war sicherlich nur eben für die alte dame in der apotheke gewesen, redete ich mir ein. vielleicht dauerte es deshalb alles so lange.

nach fast 20 minuten schepperte endlich die haustür und ich erkannte die eiligen, festen schritte des objekts. dann stand es vor mir, gesicht und hände schwarz, die kleidung zerrissen, aber der ganze mensch darunter strahlte mir entgegen.
"oh, wie schön, ich hab besuch... ich war schon den ganzen tag richtig aufgeregt."
ich zeigte dem objekt gleich mehrere vögel. dann versuchte ich, einen blick in seine augen zu erhaschen, um den pegel festzustellen. spannend: das objekt schien nüchtern zu sein.
"was hast du denn angestellt?" fragte ich und deutete mit dem kinn auf dreck und löcher.
"ich hab mein fahrrad repariert. ich war vorhin in dem kleinen laden... und ich hab dir was mitgebracht!"
es hielt mir eine packung bremsklötze vor die nase.
"du hattest doch mal gesagt, deine seien runter?"
ich staunte. das waren ja mal wieder objektsonnenseiten. naja, nicht einlullen lassen, dachte ich mir.
zehn minuten später kniete ich neben meinem rad wie ein schulkind und wurde frauengerecht und geduldig technisch aufgeklärt. danach konnte mein rad wieder bremsen und ich war happy.

anschließend erklommen das objekt und ich schulter an schulter die treppen und betraten die objektwohnung. im flur hielt mir das objekt die augen zu:
"liebe, liebe morphine, du darfst dich jetzt nicht erschrecken. aber meine wohnung sieht wild aus, ich habe ganz lange nicht mehr geputzt."
"ach was", sagte ich cool, "bei mir ist auch grad nicht so aufgeräumt."
"aber du bist so ein reiner und ordentlicher mensch, glaub mir, deine wohnung KÖNNTE gar nie so aussehen."
vorsichtig nahm das objekt seine hände aus meinem gesicht. ich blinzelte wie eine eule und sah mich dann um.
nunja, das objekt hatte nicht untertrieben. wild war ein mildes attribut für den zustand der wohnküche. völlig verwahrlost hätte es besser getroffen. dicke wollmäuse in allen ecken, der boden voller müll und tabak, ebenso der tisch. nur der herd war wie immer auf hochglanz gewienert. klar, kochen war ja auch des objekts heiligstes hobby.
"ich muss ganz dringend duschen, süße", sagte das objekt. "ich stinke. setz dich doch solange. hier, dreh dir doch eben eine zigarette... es ist auch noch apfelsaft da... und kaffee... und jetzt auch wieder milch, wenn du welche möchtest."
das objekt zog sich aus und rannte dann nackt durch die zimmer der fast vorhanglosen wohnung, um ein frisches handtuch und ein sauberes hemd zu finden. zwischendurch befüllte es die waschmaschine. ich starrte derweil angestrengt auf die tischplatte und ihre reichliche mülldeko. erst, als das wasser rauschte, wagte ich wieder aufzublicken.

als das objekt wieder aus dem badezimmer kam, trug es höflichkeitshalber wenigstens eine hose. dann kam es an den tisch und fragte:
"sooo... wonach ist dir? hast du appetit?"
"du bist und bleibst ein ferkel", sagte ich, die zweideutigkeit der frage durchschauend.
"manchmal finde ich es ja schade, dass man dir nichts vormachen kann", erwiderte das objekt, ertappt lächelnd.

als wir gemeinsam den kühlschrank inspizierten und das objekt menuvorschläge machte, rumpelte es in der wohnung nebenan.
"ist das deine nachbarin?"
"oh gott, ja."
"die hat mich vorhin nach medikamenten gefragt."
"ja, das kann sein. die ist epileptikerin. heute geht es ihr gar nicht gut... sie hat wahnsinnige angst, dass sie heute einen anfall bekommt."
das objekt zögerte, dann richtete es sich auf.
"ich geh mal rüber und schau nach ihr."

das objekt verschwand für eine weile, dann kam es wieder herein und ließ die tür offen.
"sie hat ihre auch auf gelassen, damit ich im notfall schnell drin bin."
"und wie geht es jetzt weiter? sollen wir einen arzt rufen?"
"nee", sagte das objekt. "wichtig ist jetzt erstmal, dass sie sich beruhigt und sich nicht alleine fühlt. vielleicht können wir den anfall ja so abwenden."
"wann kann man denn abschätzen, ob so ein anfall eintritt?"
das objekt schaute auf die uhr und überlegte:
"in diesem zustand... in 45 minuten, würde ich sagen. vielleicht auch 60."
das objekt war ganz in seinem element. wenn man es so erlebte, ahnte man nicht, dass hinter dieser schale von ruhiger souveränität, fachlicher selbstsicherheit und liebevoller fürsorge abgründe von verwirrung und haltlosigkeit tobten. die einzigen anzeichen, an denen man festmachen konnte, dass sich das objekt ernsthaft sorgte, waren die ungeheure innere gesammeltheit und der blick, der zwischen tür, uhr und fachbücherregal hin- und herschweifte.

ich fühlte mich dumm und plump und kam mir unwichtig vor.
"sollen wir sie vielleicht einfach hier rüberholen", schlug ich verzweifelt vor. "damit sie nicht allein ist."
das objekt sah mich verblüfft an.
"das würdest du tun wollen?"
"naja, wenn´s denn hilft?! und wenn was passiert, dann ist sie eh da und wir können gleich den notarzt oder so rufen."
"du bist so großartig", sagte das objekt. "du bist mein besuch, du sitzt hier rum und musst auf mich warten, ich bin gar nicht richtig für dich da und dann sagst du sowas."
ich zuckte die achseln. das würde ja wohl jeder so machen.
"dann geh doch mal rüber und sprich mit ihr. ich denke nicht, dass sie rüberkommen will, dazu kenne ich sie zu gut. vielleicht möchte sie aber, dass du bei ihr bleibst."
jetzt rutschte mir das herz in die hose.
"ähm... aber ich habe keine ahnung von epilepsie! ich kenn das nur aus dem fernsehen, ich würde bestimmt das falsche im falschen moment tun und alles schlimmer machen."
"hm", meinte das objekt. "ich würde dich nicht fragen, wenn ich´s dir nicht zutrauen würde. aber du musst es dir in erster linie natürlich selber zutrauen."
"aber die kennt mich gar nicht! wenn ich kurz vor einem anfall stehen würde, wäre eine fremde person in meiner wohnung das letzte, was ich wollen würde."
das objekt sah mich an:
"du, das war kein muss oder so. nur eine chance, dich vielleicht selber auch besser kennenzulernen."
mir war allerdings nicht nach neuer selbsterfahrung, ich war ohnehin schon angespannt genug, weil ich mich gegen die objektpheromone wehren musste.

drückende 45 minunten verstrichen, in denen das objekt mehrmals nach nebenan schaute. einmal kam es hereingerannt und begann, in seiner drogenkiste zu kramen.
"was machst du denn da?" rief ich mit blick auf die tabletten in seiner hand
"das ist ein angstlöser", erklärte das objekt.
"hast du das aus der klinik geklaut", mutmaßte ich.
"mann! das ist eine notfallration für einen meiner patienten! und das muss ich morgen natürlich auch melden!"
das objekt stürmte wieder aus der wohnung und nach nebenan.

ich konnte mich derweil meiner neugier nicht erwehren und öffnete den deckel der geheimnisvollen kiste. obenauf lag ein sehr süßes foto vom objektsohnemann. darunter fand ich etwas graues tablettenförmiges, vermutlich mdma. daneben lag etwas, das in ein taschentuch gewickelt war. ich guckte, ob die luft rein war, dann faltete ich das tuch vorsichtig auseinander. drinnen befand sich ein tütchen mit bräunlichen krümeln. wegen der farbe und der konsistenz dachte ich sofort an heroin. ich bekam wacklige knie und mir wurde schlecht. ich hatte es ja insgeheim vermutet. aber vielleicht war auch kein heroin, sondern nur ein anderes amphetamin oder crack. andererseits sagte das objekt immer von sich, dass es ein totaler downer-typ sei. warum also sollte es solche mengen partydrogen bunkern?

fragen über fragen über fragen. dann hörte ich geräusche auf dem flur. das objekt redete beruhigend auf jemanden ein. dann kam es in die wohnung zurück.
"so, ich glaube, jetzt passiert nichts mehr", verkündete es freudig.
ich lächelte verkrampft.
dann stellte sich das objekt an den herd. es gab spargel und zum nachtisch selbstgebackene waffeln.
anschließend tranken wir wein. vorsichtig sondierte ich den ist-seelenzustand des objekts. der schien gut. es lachte viel und erzählte viel aus seiner kindheit. dann kamen wir auf das thema frauen. ich kam auf die letzten wochen und den wilden wechselhaften wildwechsel zu sprechen, anschließend auf sehnsucht und sucht. dem thema drogen wich das objekt allerdings konstant aus. keine chance, es darauf festzunageln oder direkte fragen zu stellen. ich erfuhr stattdessen, dass die aktuelle gespielin dem objekt auf die nerven fiel. stattdessen vermisste es dann und wann die objektexfreundin, mit der aber definitiv schluss sei. dann tat das objekt etwas ungewöhnliches und las mir alte post vor, die aus der zeit mit der objektsohnemann-kindsmutter stammte.
irgendwann hielt es inne und meinte:
"das ist so ein komisches gefühl, dir das alles zu erzählen."
"kann ich mir vorstellen."
dann sah mich das objekt liebevoll an:
"es ist schön, dass du da bist. danke."
"de nada."

es wurde zeit schlafen zu gehen. als ich im bad stand und zähne putzte, fiel mir auf, dass das objekt nicht bekifft war. normalerweise war es nüchtern nicht mal ins bett zu bringen. den beunruhigenden fund im hinterkopf wusste ich nicht, ob das ein gutes zeichen war oder nicht.

im bett war dann alles anders als sonst. anstatt sich sofort in die horizontale zu begeben, saß das objekt kerzengerade in den kissen. wir unterhielten uns weiter über film und musik. damit hatte ich das objekt ja reichlich beschenkt und begeistert.
"alles, was ich von dir habe, sind dinge, die ich immer wieder hören und sehen will. da ist ein strahlen drin, das ist was besonderes."
"naja, es ist halt nicht so 0815. dj ötzi kannste von mir nicht erwarten."
das objekt lachte schon wieder.
"du musst dir aber auch mal hin und wieder leichte kost gönnen."
"wie meinst du das?"
"das, was du magst, hat alles soviel tiefe und bedeutung, das ist alles so wie du eben auch bist. du musst aber vielleicht auch hin und wieder mal ausbrechen, du erdrückst dich sonst irgendwann."
"kannst du mit recht haben."

dann rutschte das objekt tiefer.
"magst du in den arm kommen?"
ich mochte.
das objekt umschlang mich und vergrub sein gesicht in meinem nacken, wo es zu schnuppern begann.
"hm...hmmm.... hmmmmmm!"
dann suchte es meine hand und nahm sie in seine beiden.
"du bist heute aber extrem kuschlig", stellte ich fest.
"ja", sagte das objekt. es hielt ganz still und schupperte weiter, während es sachte mein handgelenk streichelte.
"deine haare riechen so gut."
"haarspray", murmelte ich schlaftrunken.
"ich will, dass du zuerst einschläfst", sagte das objekt dann. "ich finde das enorm beruhigend."
"kann ich nicht versprechen. du bist normalerweise schneller."
das lag unter anderem daran, dass das objekt nur bei licht und musik einschlafen konnte, während in meinem fall beides sichere mittel waren, um mich garantiert von der nachtruhe abzuhalten. für mich hängte das objekt immer schwarze tücher über die lampe, um das licht zu dimmen und stellte die musik auf eine ganz niedrige lautstärke, aber ich brauchte es stockfinster und totenstill.

so lagen wir da und belauerten uns, wer zuerst einschlafen würde. doch irgendwann saßen wir beide kerzengerade im bett und sahen einander an.
"ich kann nicht schlafen, ich bin total wach", sagte ich.
"ich auch", erwiderte das objekt. "wie spät ist es denn?"
ich linste auf mein handy.
"kurz nach drei."
"oh mein gott."
"wann musst du eigentlich raus?"
"halb sechs."
"oh mein gott."
dann mussten wir lachen.

und irgendwann schlief ich dann doch ein, während mich das objekt im arm hielt und mir zusah. ich träumte wild und wirr, bis ein wecker klingelte und das objekt laut aufstöhnte. nach dreimaliger aktivierung der schlummerfunktion und meiner drohung, den wecker und das handy zusammen aus dem fenster zu schmeißen, hatte das objekt ein einsehen und rappelte sich auf.
nachdem es zähne geputzt hatte, saß es angezogen auf der bettkante und stupste mich an. ich zog es an mich und hielt es fest, während es seine wange auf meine legte und mir dann einen kuss gab.
"das war sehr schön", flüsterte es. "das sollten wir öfter machen."
"dann vergiss mich nicht immer", sagte ich.
"ich weiß."
"kifferlangzeitschaden", rutschte mir heraus.
"hab ich mir auch schon gedacht", erwiderte das objekt zu meiner überraschung ganz ruhig.
"und sonst so?"
"was und sonst so?"
"naja, was begeistert dich sonst gerade so? gestern hast du ja nicht mal gekifft."
"achso, nichts weiter."
lüge, schoss mir durch den kopf. aber meine vorlage war auch nicht besonders brilliant gewesen. klar war, dass ich es anders angehen musste. und ich wusste auch schon wie. aber das musste ich ganz genau planen.

das objekt drückte und küsste mich noch einmal, dann erhob es sich schwerfällig.
"schlummer doch noch ein bisschen."
dann ging es aus dem zimmer. und ich war allein mit meinen gedanken.

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