Montag, 29. Juni 2015
kinder
ich sitze mit v. im außenbereich eines restaurants. wir haben getränke geordert und etwas zu essen. am nebentisch hocken drei ischen mit sechs kindern. zunächst ganz zivilisiert, denn alle mampfen. doch als die kinder fertig sind, beschließen sie, laut kreischend fangen um die tische herum zu spielen.

während v. das ganz gelassen nimmt, kocht in mir unbändige wut hoch. ich versuche, mich zusammenzureißen und v.s ausführungen über motorräder zu folgen. doch es fällt mir schwer, denn mein fokus hat sich vollkommen auf die störquelle ausgerichtet.

unser essen kommt. kaum steht der teller, donnert ein dickes kind gegen unseren tisch. die getränke schwappen über, die teller hüpfen. nun bekomme ich echte mordgelüste.
"was guckste denn so?" fragt v.
"ich HASSE kinder", sage ich ziemlich laut, und: "so ein scheißhässliches trampelbalg."
v. lacht: "ach komm. die spielen doch nur. das haste als kind doch auch gemacht. kinder können nicht die ganze zeit stillsitzen."
"ich hätte das nicht gedurft", erwidere ich, "und das finde ich auch vollkommen in ordnung. das stört nämlich. solche kinder lernen später auch keine rücksichtnahme."
v. guckt mich ganz entspannt und ein wenig belustigt an und meint dann: "vielleicht ist das ja das konzept. die rücksichtsvollen sind heutzutage wahrscheinlich eher im nachteil."
dazu fällt mir nichts mehr ein, denn wahrscheinlich hat v. recht.

nicht allzu viel später zahlen die drei ischen und nehmen ihre kinder mit.
"na, besser?" will v. wissen.
"ja", sage ich.
"witzig, man kann dir deine erleichterung geradezu ansehen!"
"ja, kann ich mir vorstellen."
"wie kommt das bei dir? du hast doch auch schon männer mit kindern gehabt?"
"weiß nicht. mit denen kam ich klar. die tochter meiner ersten großen liebe fiel in eine zeit, in der ich kinder noch sehr gut leiden konnte. und der objektsohnemann... der war für mich wie ein körperteil des objekts und alleine deswegen liebenswert."
"das heißt, du mochtest kinder mal... und dann nicht mehr?"
"ja. die aversion fing an, als ich von zuhause ausgezogen war. ich wohnte in einem haus mit vielen kindern und die waren immer laut, während ich lernen wollte. das hat sich dann so gesteigert bis zu dem punkt, an dem ich manchmal das bahnabteil gewechselt habe, wenn da irgendwo kinder rumspukten."

v. lacht.
"meinst du, das hat irgendwelche gründe?"
"vielleicht, weil ich so meine kindheit ein bisschen übersprungen habe."
"wie meinst du das?"
"ich war halt schon immer ziemlich weit. ich war als kind lieber mit erwachsenen zusammen. zum beispiel mit meinem cousin, der zehn jahre älter ist. und dann musste ich mich um meine mutter kümmern, deren launen und anwandlungen unser familienleben ziemlich bestimmt haben."
"das hattest du mal erzählt, ich erinnere mich."
"ich hatte auch nie das bedürfnis, mit kindern zu spielen. ich war lieber alleine und hab mir lesen und schreiben beigebracht. ich fand auch kindergarten beispielsweise scheiße. ich hab mich da nie wohl gefühlt und auch keine freunde gefunden."
"das klingt ein bisschen autistisch. hattest du nie so eine beste freundin, wie andere mädchen das haben?"
"doch. in der dritten klasse kam eine, die war mal sitzengeblieben und schon zwei jahre älter, mit der hab ich viel gemacht. und im sportverein war ein mädchen, das war sehr okay. aber deren mutter arbeitete in einer metzgerei, und ich konnte immer wurst an ihr riechen. deshalb mochte ich nie mit zu ihr spielen gehen."
"du warst also auch als kind schon sehr..."
"irre."
"sagen wir mal speziell."
"mag sein."

"aber freu dich doch, wenn andere kinder einfach glücklich sind!" findet v. "ich hatte auch keine schöne kindheit... ich musste meinem vater die ganze zeit auf dem bauernhof helfen und hatte immer schuldgefühle, wenn ich mal was mit freunden machte, vor allem, als mein vater dann krank wurde und starb. aber wenn kinder in meinem hof spielen, finde ich das total okay."
"weiß nicht... ich gönne denen das nicht, dass sie glücklich sind, glaube ich."
"neid?"
"sowas in der art wird es wohl sein."
"mensch, morphine. das ist doch eigentlich gar nicht deine kragenweite."
"ich weiß. aber es ist wirklich ein sehr, sehr starkes gefühl von hass und abneigung."

v. guckt noch immer ganz betroffen drein.
"deshalb willst du auch keine kinder, hm?"
"ich hätte immer angst, dass ich die nicht lieben könnte. auch wenn ich hin und wieder mal denke, es wäre schon toll, wenn mich später mal wer im altenheim besuchen kommen würde."
"vielleicht gibt sich das noch. die hormone..."
"hör auf. du klingst schon wie meine mutter."
"vielleicht solltest du mal tacheles mit deiner mutter reden. ihr sagen, wie scheiße sie war, als du klein warst."
"dafür ist es zu spät. und für ihre labilität kann meine mutter ja nichts. sie hätte nie kinder haben sollen, aber das löst das problem jetzt auch nicht mehr."

v. und ich zahlen, dann wandern wir durch den regen. wir schweigen, aber ich fühle wieder meine tiefe zuneigung für v., weil er so interessiert zuhören kann und mich zu reden bringt, über emotionen, für die ich mich eigentlich schäme. im grunde wäre v. der ideale partner für mich, wenn da nur ein fünkchen verliebtheit wäre. so ist er für mich wie ein bruder, ein unfreiwilliger soul mate. die kleinste selbsthilfegruppe der welt, nenne ich uns manchmal.

während ich weiter schweige, erzäht v. noch ein paar lustige anekdoten aus seiner kindheit, als er mal einen zugeflogenen wellensittich im hühnerstall fand oder welpen mit der flasche großzog. dann kommt meine bahn und wir nehmen uns in die arme.
"bitte keine kinder töten, falls da welche in deinem abteil sind", sagt v. zum abschied.
"keine sorge, ich hab jetzt ja schon gegessen", witzle ich.
"bis bald!"
"bis demnächst... an einem kinderfreien ort!"

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Montag, 22. Juni 2015
psycho family
"ich war bei einem psychotherapeuten", berichtet mein vater am telefon, und ich falle fast rücklings vom stuhl.

die geschichte dazu ist allerdings undramatisch und schnell erzählt: mein vater ist seinem kardiologen so lange mit seiner op-panik auf die nerven gefallen, bis dieser ihn gewissermaßen an den kollegen weiterleitete. mein vater, privatversichert, hatte daraufhin eine woche später seinen ersten termin. jetzt kann er ein paar atemtechniken und ist mächtig stolz.

an dieser stelle werde ich furchtbar neidisch. suizidgefährdete warten drei monate, mein leicht neurotischer vater nur wenige tage. das ist die freie marktwirtschaft in der medizin, die unsere regierung für uns alle will. die guten ins töpfchen, und die schlechten sollen sich das kröpfchen durchschneiden.

als mein vater erzählt, merke ich, dass es ihn dennoch überwindung kostet. wird seine tochter wie so manches mal die verbalen krallen ausfahren und die aktion mit einer spitzen bemerkung kommentieren?
"ich finde das total gut", sage ich dann liebevoll. "ich halte sehr viel davon, dass du dich dazu entschlossen hast. weißt du, ein teil deiner angst stammt vielleicht auch aus deiner vergangenheit, und möglicherweise befördert dein therapeut da was zutage, und dann verstehst du dich besser."
"du kannst da ja auch mal hingehen!" findet mein vater.
oh ja. wenn du wüsstest.

ich beschließe, das gespräch vorerst zu beenden.
"viel glück für deine op morgen", sage ich. "und haltet mich bitte auf dem laufenden."
"du kannst doch auch anrufen", sagt mein vater. "ich hab ja das handy."
"das ist doch immer aus", sage ich.
"wenn es verboten ist", sagt mein vater. "in der notaufnahme beispielsweise darf man nicht telefonieren."
"ja, papa, weil da ALLE telefonieren würden, um onkel heinz und tante trude zu erzählen, dass sie einen herzinfarkt haben, obwohl ihnen nur ein furz quer liegt. aber du bist ja in einem zimmer und nicht in der notaufnahme!"
"in ordnung, ich mach das handy an."
"das sagst du immer, und dann ist es doch aus."
"ich mach es wirklich an."
"na gut."
"oder du rufst deine mutter an."
ich seufze.
"also machst du es doch nicht an."
"wenns aber doch verboten ist."
"sei doch mal subversiv", nörgle ich.
"WAS soll ich sein?"

an dieser stelle gebe auf, sage schnell tschüß und stelle mich dann ans fenster, eine rauchen. mein vater und psychotherapie, das muss ich jetzt erstmal verkraften.

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Sonntag, 21. Juni 2015
foggy thoughts
eigentlich arbeite ich gerne, doch aktuell ist das energielevel extrem niedrig. die nächste erkältung rollt an, passend zum wetter. hatte ich aber nicht anders erwartet. rotzbesoffen 40 minuten leicht bekleidet durch starkregen radeln fordert eben seinen tribut.

mal wieder gefickt. ein namenloser internet-schwanz. dafür aber recht intensiv. am ende war er deshalb ganz verblüfft. ich nicht minder: orgasmus trotz anspannung und stress, das passiert mir nicht so häufig, zumindest nicht bei wildfremden. der kommt wieder, das weiß ich, auch wenn er eine freundin hat.

ansonsten komme ich weder in sachen zahndoc noch in sachen abschluss mit dem objekt weiter. den zahndoc habe ich nicht gesehen, weil es dauernd geregnet hat und ich nicht im wetlook vor der praxis rumlungern und noch kränker werden wollte. in sachen objekt streiten sich meine diversen persönlichkeiten noch immer heftig. die vernunft alias angst hat nach wie vor die oberhand, was vielleicht ganz gut ist.

da ich gerade auch keine menschen um mich haben kann, habe ich alles abgesagt, was man so wochenends absagen kann. einem bekannten das von langer hand geplante kaffeetrinken, weil ich ahnte, dass er mir sowieso nur die ganze zeit erzählen würde, welch interessante gesprächspartnerin und welche tolle frau ich sei. schleimer kann ich nicht ab. auch eine einladung der lederjacke habe ich abgeschmettert. die schleimt zwar nicht, macht mich aber gerade wahnsinnig mit ihren 500 millionen fragen rund ums promovieren.

in meinem schlauen neuen buch steht, dass menschen mit persönlichkeitsstörungen einerseits besonders intensiven kontakt suchen, anderseits aber nicht fähig sind, sich überhaupt auf jemanden einzulassen. eiskalt erwischt, dachte ich mir. schuld daran sind laut buch übrigens frühkindliche prägungen, sprich mangelhafte responses durch die eltern. was ich mir bei meiner mutter lebhaft vorstellen kann, auch wenn ich mich an nichts erinnere.

noch ein weiteres interessantes kapital hat das buch, und zwar das über die kompensation des schwachen selbstwertgefühls durch karriere. sehr viele führungskräfte haben ein schwaches selbst, das sie durch macht/kontrolle über abhängige kompensieren. dieses verhalten erstreckt sich im job auf untergebene, im privatleben auf die familie, sofern der karriere-mensch die versorgerrolle spielt und neben emotionaler auch die wirtschaftliche kontrolle ausübt.
wahrscheinlich verliere ich deshalb mein herz an krankenpfleger und sozialpädagogen.

für alles haben wir also hübsche erklärungen. das buch unterscheidet sich allerdings in einem punkt von all meinen therapeuten und ärzten: es macht konkrete vorschläge, wie man sich zwar nicht heilen, aber dennoch stärken kann. damit hatte ich nicht gerechnet. als ich diese eigentlich ganz simplen, aber höchst vernünftigen und auch noch wissenschaftlich begründeten tipps las, musste ich ein wenig flennen. es gibt also doch wege, die weder lebenslange medikamenteneinnahme noch albernen scheiß wie quantenheilung bedeuten. einige der tipps erkannte ich wieder, es waren vorschläge, die mir das objekt hie und da in ähnlicher weise mal gemacht hatte. was meinen respekt vor dem objekt wieder ein wenig rehabilitierte.

anstatt mir in der spelunke einen anzusaufen, gehe ich nun ganz vernünftig schlafen. und bette das loch in meinem herzen auf eine kleine, duftigluftige traumwolke.
möge der morgige tag mir gnädig sein.

schlafen sie gut.

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Sonntag, 7. Juni 2015
augen-weiden
nachdem ich die letzte zeit eher brav war, ist heute mal wieder clubbing angesagt, sprich spelunke. mein freund v. ist schon einige zeit da, und er schreibt mir zwischendurch, dass ich ruhig kommen solle, da kein objekt in sichtweite sei. das gibt mir den motivatorischen rest und lässt mich trotz müdigkeit und ordentlichem vorglühpegel den drahtesel besteigen.

in der spelunke ist es überraschend voll, es haben sich ein paar kiez-kids drin verirrt und eine glatze mit weißen baggypants und turnschuhen. der spelunkenbesitzer winkt mir vom tresen, und ich beuge mich über den schmalen tisch, um ihn zu umärmeln.
"was grinste denn so?" frage ich ihn.
"na zunächst mal, weil du da bist. und dann, weil da ein typ ist, dem hab ich vor ein paar jahren mal hausverbot erteilt."
ich denke kurz an das objekt und wie praktisch es wäre, wenn es hausverbot hätte, so für die nächsten 25 jahre. der besitzer zeigt jedoch in richtung baggypantglatze.
"jetzt haben wir uns aber unterhalten, und der ist echt in ordnung", fährt der besitzer fort. "eigentlich weiß ich gar nicht mehr, warum ich mich damals so über den aufgeregt habe."

ich begrüße v. und zwei weitere bekannte. wir leeren zwei, drei drinks, dann bin ich schwerst besoffen.
"ey, ich muss dringend was essen oder ich muss nachher hier auf der couch schlafen", sage ich zu v.
"du kannst auch bei mir schlafen", sagt v. "musst auch keine angst haben, ich kann mich zusammenreißen."
"was zu essen wär mir lieber, weil sonst steht das rad auf dem kiez rum, und hier wird doch alles geklaut."
"guck mal, da drüben haben sie gerade ein schälchen mit nüssen hingestellt", stupst mich einer meiner bekannten an und zeigt auf den tresen.
ich gucke. das schälchen nüsse ist eingemauert zwischen drei personen - ein hässlicher überschminkter metal-frak, eine dicke frau und ein weiterer typ - ein typ, der hochinteressant aussieht!

leider steht der interessante mann sehr nahe bei der dicken frau und schaut ihr beim unterhalten tief in die augen. doch mein jagdinstinkt ist geweckt: wollen wir doch mal sehen! also aufrichten, schultern zurück, kinn nach oben, nicht schwanken. dann gehe ich hinüber, quetsche mich hinter die dicke frau richtung tresen und angle nach den nüssen. als ich das schälchen zwischen die finger bekomme, sehe ich kurz auf. und erwische den interessanten mann, wie er mich über die schulter der frau hinweg anstarrt. ich sehe ihm direkt in die augen - er hält den blick! bingo. dann wende ich mich schnell ab und gehe mit meiner beute zu v.

ein wenig später löst sich der interessante mann aus dem gespräch und rückt näher an v. und mich heran. er unterhält sich zwar weiter mit einem anderen, aber seine aufmerksamkeit gehört mir. dann verschwindet er auf toilette. ich überlege kurz, ob ich hinterhergehen soll, aber das wäre zu viel offensive. lass ihn kommen, sage ich mir.

ich habe mich gerade wieder dem tresen, meinen lebensrettenden nüssen und einer cola zugewandt, als ich eine hand auf meinem arsch spüren kann. ganz kurz, ganz leicht. und da ist er wieder. er lächelt mich im vorbeigehen an und macht eine entschuldigende geste.
v., der neben mir steht, guckt irritiert: "wer ist das denn?"
"keine ahnung, wir flirten gerade so ein bisschen", sage ich.
"gut aussehen tut er ja", findet v. "du stehst auf lange haare, hm?"
"nicht zwangsweise. wenn sie sehr gepflegt sind, schon. son rattenschwänzchen finde ich abturnend."
"du suchst dir aber nicht son objekt-ersatz, oder?"
"was für ähnlichkeiten hat der denn bitte mit dem objekt?"
"die haare?"
"nicht mal die! oder sind die etwa rot?"
"na gut..."
v. ist friedfertig und leert seinen wodka.
"ich werd gleich los, ich bin tot. du gehst jetzt aber nicht gleich mit dem mit?"
"quatsch. nur weil wir ein bisschen flirten, heißt das doch nix. ich hab ein bisschen spaß und spiele ein spiel."
"du hast mir auch schon andere ganz geschichten erzählt."
"jaaa... aber ich versuche ja inzwischen, ein good girl zu sein."

v. lacht und umarmt mich herzlich, dann geht er zur tür. auf einmal sehe ich, dass auch der metal-freak, die dicke frau und mein flirt richtung garderobe drängen. schweinerei, die wollen schon gehen!

ich bleibe am tresen zurück und überlege, ob ich alleine noch bleiben will. doch da huscht der interessante mann, inzwischen mit jacke und rucksack bepackt, noch einmal hinein, geht direkt auf mich zu und strahlt mich an.
"tschüß", sagt er.
"ciao", sage ich.
es vergehen zwei, drei sehr lange sekunden, in denen wir uns einfach nur ansehen, bis auch die frau hereinkommt und den interessanten mann am ärmel zupft.
"kommst du? wir wollen los."
der mann lächelt mich noch einmal an, zuckt dann mit den schultern und lässt sich hinausziehen.

ich bleibe noch ein halbes stündchen, bis ich mich vollends nüchtern fühle, dann packe auch ich meine sieben sachen. und gehe mit dem schönen gefühl, einfach wunderbar geflirtet zu haben. vielleicht begegnet man sich wieder, vielleicht auch nicht. doch manchmal zählt nicht das ergebnis. es zählt der moment.

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Donnerstag, 4. Juni 2015
spritzen oder bohren oder beides
heute wieder zahndoc.

ich komme aus der arbeit gehetzt, gönne mir aber zehn minuten, um die frise zu bändigen, einen anderen / kürzeren rock anzuziehen und parfum aufzulegen. dann noch schnell die hackis schrubben und los.

ich muss keine 30 sekunden warten, dann werde ich schon ins behandlungszimmer gerufen.
"hi!" sagt mein zahndoc und strahlt mich an, als wäre ich eine millionenschwere privatpatientin.
"tag", sage ich und schüttle ihm schüchtern die hand.
wir grinsen uns an, dann setzt mein zahnarzt zu einer patienten-story an.
"ich sag ihnen, der kam frisch aus dem krankenhaus und dann zeigt er mir eine liste mit so ungelogen 80 medikamenten drauf und ich sag, zwei drittel davon könnense getrost in die tonne schmeißen... da hat nur einer was von, und das ist die pharmaindustrie...."
laberrhabarber.
entweder ist der zahndoc aufgeregt und quatscht deshalb so viel, oder er ist nutznieser der bekrittelten pharmaindustrie und auf amphetaminen, oder aber es ist einfach seine art. da ich ihn noch nicht lange genug kenne, verbiete ich mir voreilige rückschlüsse, sondern höre einfach zu, denn er kann witzig erzählen. anschließend gebe ich ein paar anekdötchen aus der pharma-pr zum besten, dann erst werden wir uns bewusst, dass die helferin ja auch noch im raum ist.

"ja, äh, dann nehmen sie doch platz", sagt der zahndoc ein bisschen verlegen.
die helferin grinst hinter ihrem mundschutz und holt den sauger raus.
"wir wollten ja heute eine füllung machen", setzt der zahndoc an, "weil sie da so ein bisschen oberflächlichen karies haben."
ich nicke mit dem sauger im mund, sieht sicherlich obersexy aus.
"wollen sie mit oder ohne betäubung?"
gute frage.
"wie tief wollen sie denn bohren", frage ich freudsch verblödet und will mir gleich darauf auf die zunge beißen, weil mir ein großes, unbändiges lachen in der kehle sitzt.
zum glück checkt der zahndoc das nicht oder er ist einfach diskret.
"nicht so tief", sagt er, "das müsste so an der grenze sein zwischen gut auszuhalten und nicht mehr so gut auszuhalten. kommt vermutlich auf ihre tagesform an."
"wir können es ja mal versuchen, und wenn ich die praxis zusammenschreie, kriege ich eine betäubung, okay", schlage ich vor.
"machen sie doch mal bitte die türen zu und verteilen sie oropax an die leute im wartezimmer", witzelt mein zahndoc zu der helferin gewandt.
die helferin und ich kichern.
die helferin hat glück. ich beneide sie. den ganzen tag lang um diesen zahndoc rumzuhüpfen muss echt anregend sein.

dann holt der zahndoc den bohrer raus.
"ich mach ganz vorsichtig, und wenn was ist, sagen sie bescheid", verspricht er.
dann geht es los. erst merke ich gar nichts, dann beginnt ein unangenehmes ziehen. die zähne zusammenbeißen kann ich ja nicht, wegen dem bohrer und dem sauger und dem spiegel, die gerade in meinem mund stecken, also kralle ich die finger ineinander und konzentriere mich auf das konzentrierte gesicht meines zahndocs.

gerade mal fünf minuten später ist es schon geschafft.
"es kommt nur noch die füllung, okay", sagt der zahndoc.
ich bin erstaunt, wie weh es doch tut, eine füllung ohne betäubung in den aufgebohrten zahn zu bekommen, aber ich habe keine lust auf eine spritze, also halte ich durch.
"gleich geschafft", sagt mein zahndoc mit blick auf mein angespanntes gesicht.

dann sind wir fertig. alles fühlt sich gut an und die kamera zeigt mir einen schönen weißen zahn mit glatt schimmernder oberfläche.
"herrlich", sage ich, "der sieht ja jetzt richtig gut aus.
"finde ich auch", sagt mein zahndoc und lächelt sein jungs-lächeln.
wie alt er wohl sein mag, frage ich mich, wenn ich pech habe, ist er jünger als ich.
"darf ich mal spülen", frage ich, denn meine zunge und meine lippen sind staubtrocken.
"klar. trinken und essen dürfen sie übrigens auch gleich, sie hatten ja keine betäubung."
"weiß ich doch."
"achja, sie sind ja auch profi, sozusagen."

"soll ich noch mal die anderen zähne nachgucken?" fragt mein zahndoc dann.
hat er doch schon letzte woche, denke ich mir, sage dann aber nichts, weil es bedeutet, dass ich noch ein bisschen sitzen bleiben darf.
der zahndoc geht alle meine zähne durch.
"alles wunderbar. sie haben eine tolle zahnsubstanz", sagt er zum abschluss.
dann gucken wir einander an.
"was ist mit den zahnschmerzen", fällt dem zahndoc dann noch ein.
"sind besser. waren wohl doch nur die überreizten nerven."
der zahndoc nickt.
"dann machen wir da erstmal nix."
"ich hab mir so eine sensitive-zahnpasta gekauft", sage ich.
"elmex?" will der zahndoc wissen.
"nee, so ne billomat-marke aus dem penny, hilft aber auch."
"klar hilft das auch, das ist im grunde wirklich egal, was sie da nehmen", sagt der zahndoc. "elmex und sensodyne waren halt die ersten mit sowas im programm."
"ja, ich erinnere mich, sensodyne hatte schon meine mutter, ich glaube, sie nimmt das zeug bis heute."
wir lachen und gucken uns wieder an.

da meldet sich plötzlich und unangenehm mein komplexbeladenes alter ego aus dem hintergrund: los, alte, schwing deinen arsch jetzt hier raus. erstens hat der bestimmt sowieso ne tusse, so wie der aussieht, und zweitens klaust du dem seine kostbare zeit, die er dringend für andere patienten braucht, die ihm wenigstens kohle bringen.
also erhebe ich mich aus dem stuhl. als ich stehe, zittern mir ein bisschen die beine. ich gucke meinen zahndoc schüchtern an. ultrapeinlich ist mir das auf einmal alles. der merkt doch, dass du ihn anhimmelst, sagt mein alter ego, und den himmeln bestimmt viele an.

mein zahndoc begleitet mich zur garderobe.
"wann sehen wir uns denn wieder?" sagt er und guckt in den kalender, als wolle er mich nächste woche gleich noch mal reinbestellen.
"nächstes jahr?" sage ich. "also ich komme halt immer einmal im jahr wegen zahnreinigung und so."
"kommen sie besser ende des jahres noch mal", schlägt der zahndoc vor, "dann schauen wir noch mal rein."
"das ist bei mir auch so ein bisschen eine finanzielle frage", sage ich. "aber ich weiß schon, besser vorbeugen als nachsorgen."
"ach, apropos vorbeugen... ich zeige ihnen mal was! vorher lass ich sie nicht gehen!"

was kommt jetzt, frage ich mich und folge dem zahndoc durch die räume bis ganz nach hinten. wilder sex im labor?
doch nein, wir entern das hinterste behandlungszimmer in dem langen flur und der zahndoc zieht eine elektrische zahnbürste aus einer schublade.
"fühlen sie mal", sagt er, schaltet die zahnbürste an und hält sie an meinen nackten unterarm.
"das kitzelt", kichere ich.
der zahndoc erklärt mir ein paar besonderheiten dieser zahnbürste und drückt mir einen prospekt in die hand.
"nur noch so... zum thema vorsorgen. falls sie mal geburtstag haben, das ding ist eine gute investition. hier, sehen sie, die simpelste variante reicht, das ganze teuere zeug da drüben ist alles schnickschnack. sieht schön aus, taugt aber nicht."
"ich überlegs mir", sage ich. mehr wohlwollen kann ich beim willen nicht aufbringen, denn jetzt werde ich traurig. das alter ego hat mich ganz aus der flirtlaune gebracht.

der zahndoc guckt mich lieb an und lässt noch mal die elektrische zahnbürste auf meinem arm kribbeln, bis ich schmunzeln muss.
dann geben wir uns die hand und schauen uns an. der zahndoc zögert.
"ich melde mich", sage ich artig, aber unverbindlich.
"ciao", sagt der zahndoc langsam und blinzelt, wie er es oft tut.
dann hüpfe ich betont lässig die treppe hinunter.

draußen auf der straße sonnenschein. aber in mir ist es ganz kalt. kalt und unsicher. bilde ich mir das ein oder ist da auch von seiner seite große sympathie?
und warum, verdammt, hab ich nicht einfach gefragt: hey, willst du nicht ein bier mit mir trinken gehen?

und überhaupt, was mach ich jetzt? ein halbes jahr warten? einen notfall simulieren? oder einfach die tage nach praxisschluss noch mal vorbeigehen und sagen, hey, wie wärs, haste zeit für ein getränk? mit dem risiko, dass ich mir danach einen neuen zahnarzt suchen muss?

mut haben bedeutet so viel kraft und angst und scham. aber mutig sein ist immer noch der einzige weg, die realität zu verändern.

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Montag, 1. Juni 2015
abschnittsweise träumen
die wenigen male, die ich derzeit aus dem leichtschlaf in eine traumphase hinübergleite, sind kurz aber intensiv und bisweilen sehr unterhaltsam.

heute nacht (laut app ganze zwei prozent tiefschlaf!) träumte mir, ich wohne mir zwei jungs zusammen. ein blonder langer schlaks, mit dem ich offenbar irgendwie verbandelt war, und ein kleiner langhaariger mit harry potter-brille. anfangs lagen wir alle drei in einem sehr choatischen, aber gemütlichen zimmer auf einem bett mit geblümter steppdecke. wir schmissen uns drogen in tablettenform rein und ich fühlte mich sehr breit. unser harry potter-mitbewohner wollte uns zu einem festival überreden, das hieß im traum "forks", war aber zu teuer, und außerdem waren wir viel zu high.

das war sequenz eins. dann wachte ich auf und schlief wieder ein.

harry potter war eindeutig der pfiffigere meiner beiden mitbewohner und obendrein noch fahrtüchtig. wir fuhren mit dem auto durch die stadt bzw. zu einer u-bahn. im auto meckerte mein blonder lover, der ein eifriger leser war, dass harry potter ja nie ein buch gelesen habe. harry potter konnte aber ganze passagen auswendig zitieren, die er irgendwo aufgeschnappt hatte. im traum erkannte ich die autoren und war schwer beeindruckt. die beiden jungs machten sich noch eine weile an, dann mussten wir zur u-bahn.

sequenz drei nach erneutem aufwachen:
in der u-bahn gingen wir einander verloren. ich beschloss, meine oma (in der realität 2011 verstorben) zu besuchen. ich fuhr mit dem bus endlos über land und stieg falsch aus. auf sehr verwirrenden umwegen kam ich dann doch bei meiner oma an, allerdings hatten sie dort das gesamte viertel umgebaut. direkt vor der wohnung meiner oma war nun ein hypermoderner lidl-markt, der jedoch nur die größe eines kiosk hatte. meine oma war nicht da, dafür meine eltern, die die ganze zeit darauf warteten, dass ein anruf kam, der bestätigen sollte, dass meine oma tot war.

sequenz vier:
ich war bei meinen eltern im kinderzimmer und wollte mich anziehen. der blonde mitbewohner war auch da und entpuppte sich als objekt. während ich ein komisches altweißes mieder mit ganz viel kitschiger spitze anlegte, weil weihnachten war, erklärte mir das objekt, dass es jetzt mit einer anderen frau zusammen war. ich nickte nur und meinte, das sei schon okay. dann fiel mir auf, dass ich das mieder falsch rum trug und dass das weiße kitsch-ding einen raffinierten schwarzen lack-gürtel besaß, und dass das alles überhaupt ganz anders musste. ich stand entnervt vor dem spiegel und überlegte, ob ich den ganzen scheiß noch mal aufknöpfen und andersrum anziehen oder es einfach so lassen sollte.

um 7.20 uhr nach rund sieben stunden leichtschlaf inklusive 33 aufgezeichneten wachzuständen meldete sich die volle blase. danach war ich bis zum anschlag wach, als hätte ich eine line geschnupft, inklusive herzklopfen und dem gefühl, dass mir die augen aus dem kopf gepresst wurden. so ging eine idyllische nacht zu ende. aber wenigstens hatte ich nett und skurril geträumt. sequenz vier fand ich zudem aufschlussreich, da sie den aktuellen objekt-konflikt symbolisierte: alles so lassen und im ewigen hass verharren oder doch irgendwann noch mal aussprechen für den inneren frieden, mit dem bewusstsein, dass mich das objekt dann wieder rumkriegen könnte (schwarzer lackgürtel).

ich liebe meine träume auf jeden fall und bin froh, dass sie sich trotz des schlafmangels nicht vertreiben lassen und mir dabei auch noch so detailliert in erinnerung bleiben.

was träumen sie denn so?

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Donnerstag, 28. Mai 2015
mach mir ne füllung, baby!
mein zahndoc ist eine heiße schnitte. garantiert nicht älter als mitte 30, groß, schlank, mit einem bildhübschen gesicht mit blauen strahleaugen. der schwiegermuttertraum schlechthin.

heute bin ich wie jeden sommer mal wieder zur prophylaxe. ich gehöre zu den wenigen menschen, die so etwas gern machen. zum einen, weil mich meine zähne - anders als andere körperteile - nicht im stich lassen. die sind kräftig, und wenn sie sich nicht gerade knirschenderweise selbst zerstören, relativ immun gegen erosive kräfte wie karies und co. zum anderen mag ich es, wenn das ultraschallgerät meinen mickrigen zahnstein aus den zwischenräumen sprengt. das ist ein schöner, reinigender schmerz.

nachdem wir durch sind, kommt der zahndoc zur kontrolle. alles fein, aber weil ich in einem backenzahn ein ziepen habe, das sich nicht zuordnen lässt, macht er ein röntgenbild. das zeigt, dass der verdächtige zahn innen wie außen gesund ist.
"ein bilderbuchzahn", sagt der zahndoc zufrieden. "da müssen wir uns überhaupt keine sorgen drum machen."
"fein", sage ich.
mein zahndoc schaut mich freundlich an wie immer:
"und sonst? gehts ihnen gut?"
ich blinzle angestrengt, wie meint er das jetzt?
"soweit ganz okay. doofe erkältung, aber sonst..."
"nehmen sie denn noch die ssri?"

da fällt mir wieder ein, dass ich ihm mal von meinen depressionen erzählt habe. alter schwede, das hat er sich gemerkt? über ein ganzes jahr?
"nee, die hab ich vor zwei monaten abgesetzt", sage ich stolz wie bolle.
"gut", findet der zahndoc, "und kommen sie damit zurecht?"
"im kopf inzwischen schon", sage ich. "nur schlafe ich furchtbar schlecht und alles ist übelst verspannt."
"sie sehen auch ein bisschen müde aus", findet der zahndoc. "soll ich sie krankschreiben?"
ich blinzle verwundert. mein zahnarzt will mich wegen müdigkeit krankschreiben?
"das ist furchtbar nett, aber ich muss arbeiten", sage ich.

ich schwinge mich aus dem zahnarzt-stuhl.
"ja dann", sage ich und gebe dem zahndoc die hand.
er hält sie ein bisschen fest und zwinkert mich dann an:
"ich drücke ihnen die daumen."
"wofür?"
"dass... dass sie das packen."
"ich bin gerade ganz zuversichtlich."
"naja, ich weiß... das ist heilt langsam. das ist nicht wie ein beinbruch."
"ein beinbruch kann auch ganz schön nervig sein."
"hatten sie mal einen?"
"nee, aber eine gebrochene hand. hat meine komplette bildhauerei-karriere ruiniert."
"sie machen bildhauerei?"
"neeeeeiiin. ich wollte mal kunst studieren und hab nach dem abi ein seminar dazu belegt. aber mit der kaputten hand musste ich das an den nagel hängen."

im hintergrund taucht die zahnarzthelferin auf:
"kommen sie? der nächste patient ist da."
mein zahndoc schaut mich an:
"wollen sie noch mal wiederkommen?"
ich stutze und schaue dumm.
"wir könnten eine füllung für ihren freiliegenden zahnhals machen, dann ist das nicht mehr so unangenehm", erläutert mir mein zahndoc.
"sowas geht?" frage ich.
"klar. aber es kann sein, dass die nach einer zeit wieder abfällt."
"das würde ich riskieren,wenn das eine kassenleistung ist."
"dann machen wir das."

der zahndoc greift sich höchstpersönlich den praxiskalender und nennt mir einige mögliche termine. wir einigen uns auf einen in der kommenden woche.
"da haben wir dann richtig schön zeit", sagt er und es klingt ein wenig wie ein rendezvous.
"danke", sage ich und habe zartes herzwummern.
"ich drücke ihnen ganz fest die daumen", wiederholt mein zahndoc, bevor er zur tür sprintet und sie mir aufhält.

dann stehe ich draußen im regen und denke: mannomann. entweder ist mein zahndoc ganz raffiniert in sachen kundenbindung unterwegs, oder er mag mich.

jetzt bin ich ein bisschen aufgeregt, was nächste woche passiert. zwischenzeitlich mache ich mir mal ein paar warme gedanken zum thema "wie angle ich mir meinen zahnarzt?"
träumen ist schließlich erlaubt.

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Montag, 25. Mai 2015
vater
mein vater wurde vergangene woche 67. seit längerem bereits hat er herzprobleme. sein herz ist vom jahrelangen bluthochdruck vergrößert. die ersten kleinen operationen stehen an.

mein vater, eher weniger nervenstark, ist deswegen psychisch angeschlagen. habe ich ihn am telefon, komme ich kaum zu wort. ich höre zu, denn ich weiß, wie wichtig es ist, ängste aussprechen zu dürfen, damit sie nicht hefekuchenartig aufgehen und in panik umschlagen.

das schlimmste, was meinem vater nun allerdings bevorsteht, ist eine lebensumstellung. diese hat ihm sein kardiologe angeraten. mein vater ist adipös, bewegt sich kaum und ist von natur aus eher weniger ambitioniert. er hat in seinem leben nie groß um etwas gekämpft, weder geistig noch physisch, sondern ist konsequent den weg des geringsten widerstands gegangen, obwohl er sicherlich nicht dumm ist.

die angeratene lebensumstellung macht ihm nun schwer zu schaffen. verzichten oder sogar etwas neues dazulernen müssen, das ist nicht sein ding.
"ich würde das unbedingt machen", sage ich. "schau mal, du bist privtpatient, du würdest wahrscheinlich einfach ein paar wochen lang in eine diätklinik gehen, dort lecker, aber ausgewogen essen und ein bisschen bewegung in dein leben integrieren lernen. das ist doch fast wie urlaub."
"ich will einfach nur meine tabletten schlucken, dann bin ich doch auch gesund", erwidert er.
ein neues, aktives, gesundes leben, in dem er vielleicht keine tabletten gegen bluthochdruck, cholesterin und zucker braucht, erscheint ihm nicht lebenswert. noch nicht mal den versuch möchte er wagen. bloß keine anstrengung.

es ist nicht meine aufgabe, ihn zu ändern, sage ich mir, als ich mit dem gefühl von enttäuschung auflege. es ist sein leben. aber meine enttäuschung hat noch eine andere quelle.

mein vater war immer ein mensch mit hohen erwartungen. er hat eine subtile art, druck auszuüben und schafft es, mich auch heute in meinem fortgeschrittenen alter noch mittelgroßen schuldgefühlen auszusetzen. seine enttäuschung über mein versagen in beruflicher hinsicht ist wie eine schweigende wand. besonders gut erinnere ich mich an die situation, als ich mein examen machte und eine zehntelnote schlechter als mein cousin abschnitt. während ich heilfroh war, durch die prüfungen gekommen zu sein, war die stimmung bei meinen eltern jenseits von feierlich. mein vater meinte, seine investitionen finanzieller art in mich wären damit wohl alle sinnlos gewesen.

ebenfalls sinnlos waren unter anderem auch seine investitionen in meinen klavierunterricht. im kindergartenalter bereits wurden verklärte vorstellungen in mich hineinprojiziert und ich zur musikalischen früherziehung verdonnert. später lernte ich ein paar instrumente, unter anderem klavier. ich bin allerdings kein musikalisches genie. für ein solides klavierspiel hätte ich deutlich mehr üben müssen. zum abitur hin fand ich dann keine zeit mehr dafür, zumal ich mehr oder minder bei meinem freund wohnte, wo auch kein klavier herumstand. vor ein paar jahren dann sagte mir mein vater, er habe ja schon gehofft, dass das mit dem klavierspielen bei mir mal "etwas wird". ich fragte nach, was er damit meinte, und offenbar gingen seine gedanken durchaus in richtigung pianistenkarriere, auf jeden fall aber in richtung geld verdienen und ruhm.

ich frage mich noch immer, woher diese erwartungshaltungen kommen. meine eltern haben kein abitur oder studium. mein vater hat seine ausbildung mit einer 3,8 beendet - knapp vorbei an durchgefallen also. dass er eine karriere bis zum besserverdiener hingelegt hat, verdankt er ganz allein den regelungen des beamtentums: er stieg durch älterwerden auf, nicht durch einsatz, überstunden oder weiterbildungen. er hat sich nie über das absolut notwendige hinaus engagiert, weder im job noch für anderweitige gute zwecke. dass ein mensch, der selber nie etwas überdurchschnittliches zustande bringen musste, um etwas zu erreichen, mir heute vorwürfe macht, dass mein nicht geringes, kontinuierliches engagement unter den widrigen umständen noch nicht zum gewünschten erfolg geführt hat, ist für mich schwer zu ertragen.

als ich v. heute beim essen die geschichte erzähle, meint er, dass ich unbedingt "endlich von zuhause ausziehen" solle. als ich etwas beleidigt sage, das sei ich bereits mit 16, lacht er nur:
"wirklich? mir scheint, du lebst auch hier in hamburg noch viel zu nah bei den erwartungen deiner eltern."

eiskalt erwischt. und wieder einmal wird mir klar, dass es erwachsenwerden nicht gibt bzw. dass dieser prozess lebenslanges lernen und auseinandersetzung bedeutet, mit sich selbst und anderen. im gegensatz zu meinem vater will ich es anpacken. mein schicksal lenken, wann immer ich die kraft dazu habe. meine aktuelle aufgabe besteht nun darin, an möglichst große mengen dieser kraft zu gelangen.

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Sonntag, 24. Mai 2015
rise again
am freitagmorgen wache ich mit dem schädel des jahrhunderts auf, denn ich habe wieder nicht geschlafen. das verblüffende dann jedoch: die gedankenkreisel stehen still. ich fahre arbeiten, widme mich anschließend zuhause noch eine ganze weile einem brach liegenden projekt, finalisiere die steuererklärung und putze die wohnung. ich denke: wow, alles ruhig. normalität. ich bin so gut drauf und weiterhin unglaublich wach, dass ich um mitternacht noch joggen gehe.

der langerhoffte turn ist also nun doch da. ich weiß nicht, wie lange er halten wird, aber gerade geht es mir gut. im kopf ruhe, nur dezente traurigkeit, die sich aber sehr gut mit den angeeigneten gedanklichen maßnahmen bekämpfen lässt. keine verzehrende sehnsucht mehr, keine objektbesessenheit. die homöopathie? ein wunder? oder nur ein kurzes intermezzo?

auch heute ist kein schlechter tag. abends verabrede ich mich mit der krankenschwester zum feiern. obwohl sie in letzter sekunde absagt, fahre ich in die spelunke. und treffe dort das objekt.

der erste gedanke ist interessanterweise nicht: ohgottohgott, was mach ich bloß, was sag ich ihm bloß?! sondern: scheiße, hoffentlich macht es mir jetzt nicht mein stimmungshoch kaputt. ich hole mir erstmal einen drink, schnappe mir einen bekannten und unterhalte mich. schön beschäftigen. nach innen, um die ruhe zu halten. nach außen, damit das doofe objekt bloß nicht denkt, dass es mich interessiert, es heute zu sehen.

aus den augenwinkeln spähe ich natürlich einige male. das objekt hängt allein rum und tanzt ab und an, ansonsten ignoriert es mich und unterhält sich mit zwei typen, die ebenfalls totale aufreißer-arschlöcher sind. das objekt wirkt für seine verhältnisse unheimlich dünn, auch das gesicht ist hager unter dem wilden bart.

ich bin erstaunt, wie wenig es mich berührt. kein alles verschlingendes bedürfnis, zu ihm zu gehen und es zu bitten, nicht mehr böse zu sein. vielmehr leichter groll: unfassbar, dass es sich offenbar immer noch als opfer fühlt. man muss ja auch mal sehen, was dazu geführt hat. wäre das objekt abgesehen von seinem fremdge(h)ndefekt eine korrekte, integre persönlichkeit, hätte ich damals nach der verpetzaktion sofort bei ihm angerufen und es vorgewarnt. aber nach allem, was es sich geleistet hatte, fühlte ich kein loyalitätsbedürfnis mehr.

ich habe den eindruck, dass es dem objekt nichts ausmacht, mich zu sehen, dass es allenfalls noch immer sauer ist. allerdings packt es etwa eine dreiviertelstunde nach meinem kommen seine sachen und haut ab. die uhr zeigt noch nicht einmal halb vier - keine objekt-zeit, um nachhause zu gehen. kann man von halten, was man will.

später auf dem fahrrad nach hause freue ich mich, dass es schon so schön hell und warm ist. mein bäcker an der holstenstraße hat auch schon auf, also noch rasch frühstück geholt. und nun sitze ich hier, viel zu wach zum schlafen, und viel zu heiter, als dass ich es irgendwie fassen könnte.

drücken sie mir die daumen, dass das ein wenig so bleibt.

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Sonntag, 17. Mai 2015
mit 100 kmh
am nachmittag kommt die lederjacke zu mir, um ihre promotion vorzubereiten. wir schreiben vier stunden, dann bin ich alle, unter anderem auch, weil das thema hundertfünfzig prozent aufmerksamkeit verlangt und ich mich damit noch viel zu wenig auskenne.
"ich beneide dich so um diese chance", sage ich warm und schaue die lederjacke liebevoll an.
"is aber n haufen arbeit, verdammt", schnauft die lederjacke, um dann hinzuzufügen:
"aber wenn ich erstmal prof bin, du... dann hab ich meine 4000 tacken und kauf mir ne finca, und da sitz ich dann die fünf monate semesterferien im jahr und bereite meine seminare vor!"
ich schmunzle:
"heirateste mich, bevor ich flaschensammlerin in deutschland werden muss?"
die lederjacke schüttelt energisch den kopf und meint:
"wohnen kannst du natürlich bei mir. aber heiraten ist doch quatsch! das mach ich nicht. nie im leben. so ein verlogener scheiß!"

später sitzen wir in meinem lieblingsimbiss und teilen uns nudeln und ein fischgericht.
"was soll denn nun aus mir werden?" frage ich die lederjacke mal wieder. "was würde denn zu mir passen?"
"mach doch das ref", rät mir die lederjacke zwischen zwei gabeln glasnudeln.
"was würde mich denn in deinen augen dafür qualifizieren, lehrerin zu sein?"
die lederjacke denkt scharf nach und sagt dann:
"du bist so ein unglaublich guter mensch, du könntest kindern ganz viel geben, weil du so empathisch bist."
"boah, lederjacke", rufe ich. "genau deswegen wäre ich doch total am arsch als lehrerin. ich wäre der punching-ball im null-bock-kampfring! als lehrerin musste hart sein, knallhart und cool und darfst nichts an dich ranlassen. nicht den scheiß der kinder, nicht den krampf mit den eltern, nicht das gesülze der kollegen und schon gar nicht das bewusstsein, dass du für ein schweinesystem arbeitest, das auf die totale ersetzbarkeit in einer leistungsgesellschaft und soziale kälte vorbereitet!"
"hm", sagt die lederjacke, "so gesehen haste schon recht. aber für den ein oder anderen wärst du eine offenbarung."

als wir fertig mit dem essen sind, bin ich ganz aufgewühlt. ich denke daran, dass es mit tabletten viel einfacher war. just in diesem moment schaut mich die lederjacke von der seite an und sagt:
"du, ich finde das übrigens ganz großartig, dass du so stark bist und die medikamente abgesetzt hast."
"danke", sage ich leise.
"wie ist das eigentlich so, wie sind da die unterschiede?"
"körperlich oder geistig?"
"beides, wenns für beides unterschiede gibt."
"also, erstmal schlafe ich viel weniger... und ich habe wieder mehr schmerzen, weil die anspannung steigt und ich total verkrampfe. das ist das körperliche. im kopf ist alles wieder viel intensiver. ich kann so in den himmel schauen oder in die blätter eines baums und es ist wahnsinnig schön, so schön, dass ich mich dadurch mit der ganzen welt verbunden fühle... die kehrseite ist, dass alles traurige auch wieder viel intensiver ist. ich habe wieder viel mehr angst - vor menschen, vor meiner sozialen lage, vor jedem tag. alles ist schwieriger und sperriger, der kopf rattert die ganze zeit und ich hab angst, dass mir irgendwann die sicherungen durchbrennen. aber ich versuche, die angst auszuhalten. es muss sich doch auch mal einpendeln, meinst du nicht?"
die lederjacke lächelt unsicher, das ist nicht ihr terrain, doch dann sagt sie:
"das mit dem rattern im kopf kenn ich auch, ich kann auch ganz schwer abschalten. aber versuchs doch mal als gabe zu sehen. du kriegst viel mehr mit als andere. für irgendwas muss das doch auch nützlich sein."

solange ich mit der lederjacke unterwegs bin, geht es mir gut. zuhause dann packt mich die große leere wieder. zum glück schreibt mir v., ob ich nicht noch mit ihm was trinken gehen möchte. dankbar antworte ich mit ja und verabrede mich mit ihm auf dem kiez.

als ich bei der kneipe ankomme, in der wir uns treffen wollen, findet dort gerade eine schlägerei statt. ich drücke mich an die hauswand und hoffe, dass mir keiner auf die fresse haut. dann kommen auch schon die bullen angerast mit tatütata, vier autos insgesamt. die ordnungshüter springen aus den wagen und krallen sich die unruhestifter, nur einer entkommt, aber eine junge frau, die offensichtlich auch mit in den kampf verwickelt war, hetzt zwei polizisten auf den flüchtenden, der dann auch gleich aus dem trubel herausgezerrt, gegen ein auto geworfen und durchsucht wird.
ich drücke mich ganz vorsichtig an den immer noch schreienden und sich wehrenden menschen vorbei und verschwinde in der kneipe, wo v. schon auf mich wartet.
"da draußen gehts ja ab", sage ich zur begrüßung.
"ach, das ist halt großstadt", sagt v. beruhigend und umarmt mich.

v. hat mir schon einen gin tonic geordert und eine warme welle schwappt über mein herz, weil ich das eine so schöne geste finde.
dann will v. erstmal wissen, wie sich der zustand meinerseits hält. ich berichte.
"meinst du, du ziehst das weiter durch?"
"weiß nicht. in zwei wochen hab ich wieder termin in der klinik, da bespreche ich das mal. ist halt irre anstrengend so. alles sehr fragil, aber auch irgendwie schön. so mehr ich, weißte?"
"und denkst du dann auch mehr an suizid?" will v. wissen.
ich überlege.
"das thema ist präsenter, ich würde auch sagen, dass in einer akuten situation die hemmschwelle vielleicht niedriger läge... aber insgesamt kann ich das im moment noch ganz gut durch geistige anstrengung ausbalancieren."
"hast du keine angst, dass es dich einfach mal überkommt?"
"das kann ich mir ehrlich gesagt so konkret gar nicht vorstellen."
"ich hatte ja mal so einen moment..."
"wie meinst du das?"
"das ist schon länger her, ich kam damals gerade von meiner freundin, war eigentlich ganz gut drauf, und dann hatte ich irgendwie so einen impuls... und hab das auto gegen nen baum gesetzt."

ich mache augen wie untertassen und bin erstmal sprachlos.
"aber daraufhin haben sie dich doch sicherlich eingebuchtet?" frage ich, als ich mich wieder berappelt habe.
"nee. also, der fall wurde natürlich untersucht, gab ja keine bremsspuren, es war eine freie strecke und ich hatte 100 sachen drauf. aber der polizist meinte bei der vernehmung ganz lapidar, ist ja jedem seine sache, was er mit seinem leben macht. meine freundin war damals übrigens auch ganz cool und sagte, wenn du meinst, dann bring dich halt um."
ich überlege.
"eigentlich ganz clever."
"das hat mich damals echt verletzt!"
"ja, aber... das ist gut, wenn sich jemand nicht emotional erpressen lässt, weißte? das objekt war in solchen momenten auch immer ganz distanziert und klar und hat mich in die pflicht genommen."
"wie, in die pflicht genommen?"
"wenn ich am telefon rumgeheult hab, vonwegen ich will nicht mehr, dann sagte es meist nur, gut, du hast zwei möglichkeiten, ich rufe jetzt den krankenwagen, oder du überlegst noch mal und wir vereinbaren was."
"und das funktioniert?"
"solange jemand absprachefähig ist, also trotz emotionalem stress auf gewisse geistige ressourcen zurückgreifen kann, geht das."
"ich habe immer gedacht, dann sollte man jemanden vielleicht einfach mal in den arm nehmen?"
"könnte man, aber die gefahr ist dann halt, dass der andere dann immer mit suizid droht, nur weil er in den arm möchte."

wir sitzen eine weile da und gucken stumm vor uns hin.
"trotzdem, ich bin noch immer ganz schockiert", sage ich dann und schaue v. an. "ich hätte dir das nicht zugetraut."
"ich habs mir selbst nicht zugetraut. das war ein bruchteil einer sekunde, in der ich das entschieden habe."
ich schaue in meinen leeren gin tonic und überlege, ob das der moment für eine umarmung wäre, bis mir klar wird, dass ich mit medikamenten gar nicht überlegt hätte, also überwinde ich mich und nehme v. kurz in den arm. ich denke nach, ob ich noch etwas sagen sollte, etwas kitschiges wie "mach das nie wieder", aber ich entscheide mich dagegen, versuche nur, ein bisschen nähe zu geben und fertig.
"du zitterst", sage v. schmunzelnd, als er mich wieder loslässt.
"ist die anspannung, weißte, ich bin nicht so gut in sowas."
"warum?"
"vielleicht, weil ich denke, dass du nicht umarmt werden möchtest? oder zumindest nicht von mir?"
"warum sollte ich nicht von dir umarmt werden wollen?"
ich gucke wieder in mein glas und schäme mich für mein misstrauen.
"ich fand das gerade echt schön", sagt v. noch, aber ich schaue nicht hoch, also schweigen wir lieber schnell wieder.

als wir am ende des abends vor die kneipe treten, ist es längst hell.
"scheiße, schon halb sechs", sagt v.
"ich mag das", sage ich. "jetzt noch schön radfahren, das wird mir gut tun."
"da hätte ich sowas von keinen bock drauf."
ich grinse:
"wenn ich kohle hätte, würde ich jetzt natürlich auch ein taxi nehmen."
"wenn du eines brauchst, sag bescheid."
"nee, lass mal."
dann verabschieden wir einander.

als ich die straßen entlang radle, umfängt mich der morgen mit seinem speziellen licht und einem duft, der an jeder ecke anders riecht. ein bisschen regen kommt ab und an von oben, aber für den moment ist alles in mir friedlich und freut sich auf das bett.

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