Freitag, 17. Oktober 2014
stell dir vor
"das klappt bestimmt alles nicht", jammert meine tante ins telefon. sie ist 75 und zieht zum zweiten mal in ihrem leben um, zum ersten mal alleine, nachdem mein onkel im frühjahr gestorben ist.
"ich bin 33 und in meinem leben neunmal ummgezogen, achtmal davon allein", sage ich in beruhigendem singsang. "ich dachte auch immer, irgendwas geht bestimmt schief, aber es hat jedes mal geklappt."
meine tante seufzt tief ins telefon.
"ich weiß, es ist nicht einfach, im alter gewöhnt man sich nicht so schnell, deshalb gib dir zeit", fahre ich fort. "aber nur weil du es dir gerade nicht vorstellen kannst, heißt das nicht, dass es nicht sogar ganz wunderbar werden kann."

herrjeh. zwei jahre psychotherapie, man merkt es mir an. meine tante beruhigt sich und legt hörbar erleichtert auf. vermutlich könnte ich mit solchen sprüchen inzwischen geld verdienen und menschen glücklich machen.

aber es stimmt. unsere begrenzte vorstellungskraft macht dinge unmöglich, die per se nicht unmöglich sind. niemals hätte ich geglaubt, dass ich mich letztlich so leicht vom objekt trennen könnte. etwas in mir hat den u-turn geschafft. es gibt tage, an denen ich mich erschrecke, weil mir auffällt, dass ich nicht mehr dran denke. dass sein gesicht immer mehr wie ein unscharfes bild vor meinem geistigen auge verschwimmt. dass der scharfe schmerz genauso wie die wonnevolle erinnerung einfach abflacht wie eine welle.

die dinge sind im fluss. im grunde brauchen wir nichts außer der fähigkeit, uns anzupassen. die fähigkeit der anpassung korreliert eng mit der fähigkeit, sich zu gewöhnen. zugleich widerprechen sich beide skills, denn gewohnheit verhindert die aktive bewegung der anpassung.

nehmen wir mal die bahn. die bahn streikt, leute kommen nicht von a nach b. das große murren macht sich breit. dennoch: es handelt sich um ein lösbares problem. wir nehmen das auto, den flieger, finden uns zu mitfahrgelegenheiten zusammen oder buchen die fernbusse aus. gut, auf den straßen gibt es dann ein bisschen mehr stau. aber hey, wie oft hat die bahn verspätung oder sonstige probleme? kurzum: es gibt nichts, was wir vermissen müssten, da wir die fähigkeit zur anpassung haben. nur weil wir es gewohnt sind, dass ein zug von a nach b fährt, müssen wir ihn doch nicht nutzen. womit sich auch die streiks erledigt hätten.
denken sie doch mal weiter: was, wenn die bahnkunden streiken würden?

wir haben die erstaunliche fähigkeit, durch anpassung dinge und situationen und auch menschen zu ersetzen. denken sie an mitarbeiter in einem unternehmen. an den fortschritt der medizin. an patchwork-familien. evolution. alles ist letzten endes evolution.

evolution ist nur möglich, wenn wir uns etwas vorstellen können. aber vieles sprengt unser vorstellungsvermögen: aus der unliebsamen ehe auszubrechen, in eine andere stadt zu ziehen, eine revolution anzuzetteln, kurzum, unsere welt zu verändern. trotzdem muss das nicht vorstellbare nicht zum scheitern verurteilt sein, denn da sind der glaube, die fantasie, der mut und die dummheit. zusammengenommen können diese fähigkeiten die welt aus den angeln heben.

die entscheidende frage, die wir uns alle stellen sollten, lautet demnach: lebst du noch oder träumst du schon?

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