Samstag, 14. Juli 2012
nordstern
ich bin ja eigentlich kein festival-typ. und eigentlich wollte auf gar keinen fall noch einmal auf das nordstern festival. letztes jahr war es mangelhaft organisiert (ein verlassen des geländes war nicht vorgesehen) und das event stand ganz im zeichen des starkregens. außerdem legten vnv nation die peinlichste show des jahrhunderts hin. so mit "seid ihr gut drauf" und "ich will eure hände sehen"-zwischenrufen, ungefähr zehnmal pro song. das geht gar nicht, wenn man in gepflegter melancholie schwelgen will. jedenfalls nicht für mich.

da das open-air-festival aber quasi vor meiner haustür stattfindet und ich trotz depression hin und wieder in verzweifelten aktionismus ausbreche, habe ich mir wider besseren wissens eine karte gekauft. außerdem würden northern lite spielen, und die wollte ich schon immer mal sehen.

genau wie letztes jahr regnet es teils wolkenbruchartig. ich komme wie immer drei minuten zu spät. die erste band, the exploding boy, hat bereits mit dem ersten song angefangen. die band verbinde ich mit der zeit, als ich gerade das objekt kennengelernt hatte. damals bildeten "london" und "go away" die soundkulisse für das schwanken zwischen extremer körperlicher sehnsucht und extremer körperlicher befriedigung. ich hatte lange überlegt, ob ich mir das live antun sollte, denn wenn die band gut wäre und die musik emotionen in mir freisetzte, könnte es mir vielleicht noch schlechter gehen. aber dann siegte doch die neugier.

es sind erst sehr wenige leute anwesend, die meisten stehen im überdachten eingangsbereich. ich, regenschirmbewaffnet, bekomme einen exklusivplatz an der barriere und stehe somit sozusagen fast in der erste reihe.
ich bin überrascht. stefan axell sieht besser aus als ich dachte. die lieder, die gespielt werden, kenne ich zunächst nicht. noch ein pluspunkt.

ein regenschauer, eine zigarette. stefan axell sieht wirklich richtig gut aus. er hat dieselben sexy unterarme wie das objekt. die performance ist mitreißend. trotz medikamentennebel ertappe ich mich, wie ich mit dem fuß wippe.

ich rauche weiter kette und starre stefan axell an. mann, der sieht echt klasse aus! und die musik ist wirklich gut. mit der nächsten trockenperiode kriechen sogar ein paar leute unter der überdachung hervor und hoppeln im takt mit.

die nächste band ist solitary experiments. sehr durchgestylter auftritt, alles in corporate identity. der sänger erinnert mich an den moppeligen ronan harris. ich bin gespannt. ich mag einige lieder von solitary experiments ganz gerne, allerdings klingen die alle gleich und ziemlich stark nach vnv nation, so wie vnv nation heute sind.

die show ist beschissen. nicht nur, dass der sänger auf der bühne probleme hat, den ton zu halten. die performance wirkt wie eine kopie des vnv nation konzerts im letzten jahr. sogar mit "seid ihr gut drauf" und der ganzen gute-laune-scheiße.

ich kann keinen weiberelektro mehr ab, rede ich mir ein, und werde ganz deprimiert. vielleicht will ich nie wieder tanzen gehen. vielleicht werde ich meine abende damit zubringen, melancholischen gitarren-post-punk-pop wie the exploding boy zu hören und dabei an das objekt denken. wie furchtbar.

am ende des konzerts fühle ich mich ziemlich beschissen und habe keine lust mehr. am liebsten will ich sofort nach hause. aber die nächste band sind northern lite. und hey, in "go with the flow" heißt es schließlich: "i want something good to die for to make it beautiful to live". und das will ich doch! ich muss also durchhalten.

ich gehe aufs klo und wimmere ein bisschen. überlege, mir eine weitere psychopille einzuschmeißen, um das gesocks da draußen zu ertragen. als ich wieder aus der kabine komme, macht ein bühnenmensch gerade eine ansage. northern lite würden sich verspäten, heißt es, sie seien gerade erst im landeanflug, aber sobald der flieger erstmal festen boden unter den rädern hat, würde man die band subito richtung bühne shutteln.

ich kaufe mir einen kaffee - alk ist ja nicht mehr - langweile mich und gucke leute. da gibt es nicht viel zu gucken. obwohl ich mich hässlich fühle, muss ich mir ehrlich eingestehen, dass da noch viele viel hässlichere menschen rumlaufen.

und plötzlich schrammelt eine gitarre. und da sind northern lite. die drei-mann-show hat sich quasi unbemerkt auf die bühne geschlichen und legt auch schon gleich los.

ich gucke und staune. der werte herr kubat schleppt einige mehr pfunde mit sich herum als auf den fotos, die ich von der band kenne. aber er ist genauso arschcool wie immer. ganz unpretentiös legt er mit seiner stimme, die live mindestens genauso ausdrucksstark und treffsicher wie digital ist, los und schmettert neues und ein paar klassiker. ich bin sofort angefixt und die sonne ist es auch, denn bei "reach the sun" schiebt sie die dicken schwarzen wolken beiseite und lässt ein paar strahlen auf die düstere masse fallen. und für ein paar momente rieselt ein sehr zartes gefühl von beinahe-glück durch die verspannungen an meiner zirbeldrüse...



nach northern lite spielen mesh, die ich schon kenne. anschließend project pitchfork, ebenfalls mehrmals gesehen. ich nutze die zeit für milch kaufen, zuhause eine wärmere jacke holen, was futtern und diese zwischenbilanz.

plötzlich bekomme ich smsen von freunden, die mich auf dem festival suchen. also schwinge ich mich doch wieder aufs rad und fahre nach nebenan, wo project pitchfork auf der bühne stehen.

nach rund 20 jahren dasein im musikbusiness haben sie ihren drive noch immer nicht verloren, obwohl sie alle älter geworden sind, besonders peter spilles. vom style her unverändert bekommt der gute rein äußerlich immer mehr ähnlichkeit mit robert smith von the cure. liegt vielleicht auch an der schminke, die ich noch nie gut fand. am ende des auftritts zeigt spilles in die luft und sagt: "übrigens, 300 meter von hier bin ich aufgewachsen - was für ein heimspiel!" und in seiner stimme liegt ein wenig rührung. schön finde ich das.

dann beginnen längere bühnenumbauarbeiten. ich nutze die zeit und finde meine freunde. die letzte show, apoptygma berzerk, erleben wir gemeinsam.

es ist eine band, von der man eigentlich jedes stück kennt, wenn man lange genug dabei ist. sie nutzen diesen nostalgieeffekt. die show ist perfekt, aber dadurch auch ein wenig langweilig. meine freunde machen faxen und schlagen vor, ich solle doch mit nackt-stage-diving abwechslung ins programm bringen. erst in der zugabe bringen apoptygma berzerk neuere songs. eines davon, das angeblich brandneu sein soll, entpuppt sich als coverversion von "love will tear us apart". ganz nett umgesetzt, aber kreativität sieht anders aus. dass sie covern können, haben sie eigentlich schon mit "shine on" gezeigt. kann man, muss man aber nicht noch mal haben. aber apoptygma berzerk sind eben keine pioniere. nicht mutig. nicht extravagant. müssen sie allerdings auch nicht - ihre platten werden trotzdem gekauft.

mit dem letzten song endet das festival - ohne abschiedsworte, ohne feuerwerk. die massen lösen sich auf. "ich hau dann mal ab", sage ich schnell, bevor mich wieder die traurigkeit überfraut, zusammen mit der frage, was konkret dieser tag und die investierten 41 euro jetzt in meinem leben verändert haben.
"kommst du später noch auf die party?" fragt man mich und ich weiß noch nicht so genau.

mein einziges bedürfnis lautet: flucht nach stundenlangem herumstehen mit vielen schlecht gekleideten menschen.

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