Mittwoch, 13. Juni 2012
seelendefekt
melancholie ist schwelgen, schöpfen, sturm nach zu langer ruhe. ein bisschen theatralisch blinzelt sie mir mit einem lachenden und weinenden auge zu.

melancholie ist eine kraft, schön und schrecklich zugleich.

diese kraft hat mich nun verlassen.

"du bist krank", sagte das objekt am vorletzten wochenende.

wenn man den müll nicht mehr rausbringt, ist das vermutlich so.
wenn alles außerhalb des bettes einer lebensbedrohlichen expedition gleicht, ist das wohl so.
wenn man alles und jeden aus seinem leben aussperrt, ist das wohl so.

das objekt hat die letzten wochen versucht aufzufangen, was da zu krachen und zu brechen begann. aber es war zu viel für einen menschen oder zwei.
"ich fühle mich dieser situation nicht mehr gewachsen", sagte das objekt. "ich kann das nicht verantworten."

also packte es mich unter den armen und schleifte mich in die psychiatrische notaufnahme. dort kam die angst. ich zitterte. ich wollte nicht verrückt sein. das objekt hielt mich mit seinem eisengriff fest, aber ich konnte seine anspannung spüren.

das objekt versuchte zu lächeln und mir gut zuzureden. ich hörte nichts. ich klammerte mich an diesen muskulösen oberarm und versuchte, irgendwie noch sauerstoff in meine lungen zu pumpen.

"pass mal auf, morphine", schaute mich das objekt eindringlich an. "die werden dich vielleicht fragen, ob sie dich hier aufnehmen sollen. ich würde mir das an deiner stelle überlegen, ob du nicht ja sagst."
ich nickte besinnungslos.
"und wenn die dich nach drogen fragen, dann sei bitte ehrlich. die können dir nichts. die machen auch keine tests, aber es ist wichtig, dass die dich medikamentös richtig einstufen, okay?!"
ich nickte wieder.

nach zwei stunden waren wir an der reihe. das objekt kam mit, weil es sich nicht sicher war, ob ich in der lage war, alles richtig darzustellen.
viel gefragt wurde nicht. ich bekam immerhin sofort medikamente, die mich schachmatt setzten.

auf dem weg nach draußen war ich schon ausgeknockt, schwankte und hatte das bedürfnis, mich zu übergeben. ich kotzte in die büsche und dem objekt ein bisschen auf die füße. wir mussten beide kichern.

danach nahm mich das objekt erstmal mit zu sich nach hause und versuchte, mir essen einzuflösen. es gab kartoffelauflauf und ich quälte mir zwei, drei gabeln voll rein. danach fiel ich in tiefschlaf, seit vielen tagen endlich mal wieder.

seither leben wir im taumel der medikamente, die die depression bekämpfen sollen. es dauert und dauert.

morgens holt mich das objekt telefonisch aus dem bett und versucht mich zu überreden, in den tag zu starten. arbeiten muss ich, sonst droht mir als selbstständige das existenzielle aus. davon abgesehen bedeutet arbeit struktur, zwischenmenschlichen kontakt und die chance auf ein lachen.

ich ziehe meine chefin ins vertrauen und stoße überraschenderweise auf verständnis, wenn auch sorge. als ich am freitag zu spät komme, ruft sie auf meinem handy an und ist außer sich: "du bringst dich aber nicht um, oder???" die frage rührt mich. die arbeit hält mich hoch und ich werde wieder sicherer, dass ich auf keinen fall eine stationäre therapie will.

der azubi, der mehr ahnt als er weiß, zeigt sich von seiner sonnenseite. morgens schickt er mir lustige videos und mittags bringt er mein fahrrad zur reparatur.

ich liebe mein büro, das ist schon mal klar.

mein leben liebe ich auch, theoretisch. eines tages, hoffe ich, werde ich das auch wieder spüren. bis dahin bleibe ich bei meinen zwei netten ärzten aus der psychiatrie und meinem neuen psychologen. auch das objekt bleibt weiterhin präsent und eine konstante, immer dann, wenn ich schwankend werde und an der effizienz und richtigkeit des ganzen zweifle.

und unter der asche zeichnen sich langsam, noch kaum sichtbar, neue strukturen ab.

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