Dienstag, 30. November 2010
gimme shelter: bettler und millionäre
kurz, bevor sich die u-bahn-türen zischend schließen, quetscht er sich noch herein. er ist schätzungsweise 1,50 m klein, unrasiert, trägt eine vor schmutz starrende jacke und eine isomatte unter dem arm. er schiebt sich unter den achseln nordisch-blonder, 1,90 m großer, mürrischer anzugträger durch, bis er zu einer der stangen gelangt, an der er sich dann festhält und ruft:
"meine werten damen und herren, ich bitte sie einen moment um ihre aufmerksamkeit. ich bin obdachslos und wäre für eine kleine spende sehr dankbar, damit ich heute nicht bei minus elf grad draußen schlafen muss."
automatisch zücken wir alle unsere geldbörsen, so einer kleiner hässlicher gnom und so eine böse kälte, und das alles in zeiten von terrorjournalismus und zdf-sternstunden, wo man zweistellige beträge auf dubiose konten überweist, deren inhalt angeblich waisenkindern auf haiti zugute kommen soll, nein, das geht doch hier schließlich bloß um ein paar cent. nach ungefähr einer minute hat kleine mann so viele münzen in der linken hand, ja sogar ein fünf-euro-schein ist dabei, dass er die stange loslassen und die rechte auch noch aufhalten muss.

ich selbst halte schon einen euro bereit, zögere dann aber, als ich das kleine vermögen überschlage. ich schätze den verdienst des gnoms auf rund 20 euro. die hat er in dieser einen, naja, sagen wir mal zwei minuten, da die entfernung der beiden stationen, zwischen denen wir uns bewegen, etwas länger ist, gemacht. und dann beginne ich zu rechnen. kann es sein, dass ein penner im berufsverkehr theoretisch locker mehr als 100 euro in kürzester zeit machen kann? wenn er pro station in ein anderes abteil steigt und da, sagen mir mal, pech hat oder gerade kein berufsverkehr ist und er nur fünf euro macht, hat er trotzdem nach 20 stationen, maximal 40 minuten, einen grünen beisammen. bei einem normalen achtstündigen arbeitstag wären das 1.200 euro - und zwar netto. das ist mehr, als ich im ganzen monat verdiene.

mal weiter hochgerechnet: bei rund 22 arbeits-/betteltagen pro monat hätte er insgesamt 26.400 euro. davon muss der typ dann aber keine wohnung zahlen (er ist ja obdachlos) und auch keine sozialabgaben und versicherungen (er ist sicher ein sozialfall und wird als solcher vom staat gehandhabt). das heißt, er behält, ausgaben für essen und vergnügungen mal eingerechnet, 26.000 euro im monat über. weiter hochgerechnet heißt das: in etwas mehr als drei jahren ist der kerl millionär.

als ich bei diesem ergebnis angelangte, steckte ich meinen euro wieder ein und fragte mich: warum geh ich eigentlich arbeiten?!

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