Montag, 25. Mai 2015
vater
mein vater wurde vergangene woche 67. seit längerem bereits hat er herzprobleme. sein herz ist vom jahrelangen bluthochdruck vergrößert. die ersten kleinen operationen stehen an.

mein vater, eher weniger nervenstark, ist deswegen psychisch angeschlagen. habe ich ihn am telefon, komme ich kaum zu wort. ich höre zu, denn ich weiß, wie wichtig es ist, ängste aussprechen zu dürfen, damit sie nicht hefekuchenartig aufgehen und in panik umschlagen.

das schlimmste, was meinem vater nun allerdings bevorsteht, ist eine lebensumstellung. diese hat ihm sein kardiologe angeraten. mein vater ist adipös, bewegt sich kaum und ist von natur aus eher weniger ambitioniert. er hat in seinem leben nie groß um etwas gekämpft, weder geistig noch physisch, sondern ist konsequent den weg des geringsten widerstands gegangen, obwohl er sicherlich nicht dumm ist.

die angeratene lebensumstellung macht ihm nun schwer zu schaffen. verzichten oder sogar etwas neues dazulernen müssen, das ist nicht sein ding.
"ich würde das unbedingt machen", sage ich. "schau mal, du bist privtpatient, du würdest wahrscheinlich einfach ein paar wochen lang in eine diätklinik gehen, dort lecker, aber ausgewogen essen und ein bisschen bewegung in dein leben integrieren lernen. das ist doch fast wie urlaub."
"ich will einfach nur meine tabletten schlucken, dann bin ich doch auch gesund", erwidert er.
ein neues, aktives, gesundes leben, in dem er vielleicht keine tabletten gegen bluthochdruck, cholesterin und zucker braucht, erscheint ihm nicht lebenswert. noch nicht mal den versuch möchte er wagen. bloß keine anstrengung.

es ist nicht meine aufgabe, ihn zu ändern, sage ich mir, als ich mit dem gefühl von enttäuschung auflege. es ist sein leben. aber meine enttäuschung hat noch eine andere quelle.

mein vater war immer ein mensch mit hohen erwartungen. er hat eine subtile art, druck auszuüben und schafft es, mich auch heute in meinem fortgeschrittenen alter noch mittelgroßen schuldgefühlen auszusetzen. seine enttäuschung über mein versagen in beruflicher hinsicht ist wie eine schweigende wand. besonders gut erinnere ich mich an die situation, als ich mein examen machte und eine zehntelnote schlechter als mein cousin abschnitt. während ich heilfroh war, durch die prüfungen gekommen zu sein, war die stimmung bei meinen eltern jenseits von feierlich. mein vater meinte, seine investitionen finanzieller art in mich wären damit wohl alle sinnlos gewesen.

ebenfalls sinnlos waren unter anderem auch seine investitionen in meinen klavierunterricht. im kindergartenalter bereits wurden verklärte vorstellungen in mich hineinprojiziert und ich zur musikalischen früherziehung verdonnert. später lernte ich ein paar instrumente, unter anderem klavier. ich bin allerdings kein musikalisches genie. für ein solides klavierspiel hätte ich deutlich mehr üben müssen. zum abitur hin fand ich dann keine zeit mehr dafür, zumal ich mehr oder minder bei meinem freund wohnte, wo auch kein klavier herumstand. vor ein paar jahren dann sagte mir mein vater, er habe ja schon gehofft, dass das mit dem klavierspielen bei mir mal "etwas wird". ich fragte nach, was er damit meinte, und offenbar gingen seine gedanken durchaus in richtigung pianistenkarriere, auf jeden fall aber in richtung geld verdienen und ruhm.

ich frage mich noch immer, woher diese erwartungshaltungen kommen. meine eltern haben kein abitur oder studium. mein vater hat seine ausbildung mit einer 3,8 beendet - knapp vorbei an durchgefallen also. dass er eine karriere bis zum besserverdiener hingelegt hat, verdankt er ganz allein den regelungen des beamtentums: er stieg durch älterwerden auf, nicht durch einsatz, überstunden oder weiterbildungen. er hat sich nie über das absolut notwendige hinaus engagiert, weder im job noch für anderweitige gute zwecke. dass ein mensch, der selber nie etwas überdurchschnittliches zustande bringen musste, um etwas zu erreichen, mir heute vorwürfe macht, dass mein nicht geringes, kontinuierliches engagement unter den widrigen umständen noch nicht zum gewünschten erfolg geführt hat, ist für mich schwer zu ertragen.

als ich v. heute beim essen die geschichte erzähle, meint er, dass ich unbedingt "endlich von zuhause ausziehen" solle. als ich etwas beleidigt sage, das sei ich bereits mit 16, lacht er nur:
"wirklich? mir scheint, du lebst auch hier in hamburg noch viel zu nah bei den erwartungen deiner eltern."

eiskalt erwischt. und wieder einmal wird mir klar, dass es erwachsenwerden nicht gibt bzw. dass dieser prozess lebenslanges lernen und auseinandersetzung bedeutet, mit sich selbst und anderen. im gegensatz zu meinem vater will ich es anpacken. mein schicksal lenken, wann immer ich die kraft dazu habe. meine aktuelle aufgabe besteht nun darin, an möglichst große mengen dieser kraft zu gelangen.