Freitag, 1. Mai 2015
lost im kreativuniversum oder 14 jahre später
wir treffen uns in der schanze, weil der exmedizinstudent alkoholisierungsabsichten geäußert hat, die ich natürlich nur unterstützen kann, zumal ich medikamentenfrei immer ein paar nervige, dringend auszuschaltende gedanken mit mir herumtrage.
ich komme mit dem fahrrad, und während ich noch einen platz zum anschließen suche, läuft mir schon der exmedizinstudent vor die füße. nach einer verlegenheitssekunde nehmen wir einander fest in die arme.
"ist das schön... du hast dich überhaupt nicht verändert", blubbere ich.
"du hast dich aber auch echt gut gehalten", findet der exmedizinstundent.

dann entern wir die kneipe und der exmedizinstudent holt erstmal zwei gin tonic.
"was machst du denn jetzt beruflich so, das habe ich in den mails noch nicht genau verstanden", will ich von dem exmedizinstudenten wissen.
"dasselbe wie du", sagt der. "schreiben."
ich muss erstmal lachen.
"auch brotlose kunst?"
"nee, das geht schon. ich hab damals mit meiner agentur hart verhandelt."
"erzähl, wie hast du das gemacht?"
"ich hab meinem chef gesagt, pass auf, ich bin alleinerziehender vater, ich brauche zeit, also werde ich nur teilzeit arbeiten, aber trotzdem muss ich natürlich meine familie ernähren, also brauche ich entsprechend geld."
ich gucke groß:
"meine bisherigen arbeitgeber hätten daraufhin gesagt, tschüß, dann nehm ich mir einen volontär oder so."
"nee, das ging, der ist nämlich selber vater, und seine frau arbeitet auch... das war sozusagen ein glücksfall."
"dass es DAS noch gibt!"
"ja, ich hab eigentlich auch nicht gedacht, dass es funktioniert, aber mein chef ist wirklich sehr cool."

"wie bist du denn alleinerziehender vater geworden?"
"ich habe eine frau kennengelernt, die ich sogar geheiratet hätte. wir sind zusammengezogen, dann wurde sie schwanger, und ich hab mich eigentlich riesig gefreut, obwohl es nicht einfach war - ich war damals noch frei und nicht angestellt. aber meine freundin war artdirektorin in einer großen agentur, von daher ging das finanziell."
"und dann?"
"als das kind da war, fiel ihr auf einmal auf, dass sie lieber keines gehabt hätte."
"autsch."
"wir hatten uns dann überhaupt nichts mehr zu sagen. ein jahr hab ich noch versucht, mit ihr zusammenzuleben, auch wegen meiner tochter, aber es ging nicht. wir haben überhaupt keine schnittmenge mehr."
"und wie machst du da jetzt so mit dem kind?"
"naja, es ist sehr tough. ich stehe ultrafrüh um, mache die kleine fertig und bringe sie in die kita, dann mache ich mich für die arbeit fertig und abends das ganze wieder umgekehrt. manchmal holt auch meine ex die kleine ab."
"das heißt, sie ist den ganzen tag in der kita?"
"geht ja nicht anders."
"hm."

wir schweigen, schauen uns an, ordern noch einen gin tonic.
"und bei dir so?" will der exmedizinstudent-texter wissen.
"geht so. ich hab auch jahrelang in agenturen geschuftet, unter hölle-bedingungen für ganz wenig geld... jetzt arbeite ich in einem kleinen unternehmen, unter ganz guten bedingungen und in einem sehr netten team, aber immer noch für so wenig geld, dass ich eigentlich kaum überleben kann."
"kein mann? keine kinder?"
"nein. ich hab hier nie jemanden kennen gelernt, mit dem ich mir eine beziehung hätte vorstellen können. und finanziell, das ginge nicht mit kind, das reicht ja nicht mal für mich - manchmal muss ich sogar meine eltern anbetteln, zum beispiel, wenn ich zum zahnarzt muss."
"schlimm", findet der exmedizinstudent schockiert. "das heißt, du bist total allein und hast obendrein noch nicht mal geld."
ich zucke die achseln.
"und das macht dir nichts aus?"
"doch. zwischendurch will ich immer mal nicht mehr leben."
dann erzähle ich ihm entgegen meiner absichten doch meine psychostory inklusive meines aufenthalts im irrenhaus.
als ich fertig bin, schaut er noch ein bisschen schockierter.

"wenn du jetzt nichts mehr mit mir zu tun haben willst, ist das okay", sage ich beschwichtigend. "ich weiß, für menschen, die mitten im leben stehen, bin ich nur eine bedauernswerte randgruppe, die aber bitteschön auch hübsch brav am rand bleiben soll."
"nein, nein...", sagt der exmedizinstudent betroffen. "ich habe ja selber eine therapie gemacht."
"neeeeeiiiiin... wegen deiner freundin?"
"ich weiß nicht, kam damals auch viel zusammen. die trennung... und dann war ich ja frei. ich habe für eine große agentur aufträge erledigt, aber das war dort so... die suchten nach fehlern, weißt du. und jeder war komplett für sich, jeder wollte und musste der beste sein. ellenbogenmentalität, und ein unglaublich mieses betriebsklima."
"kenn ich", sage ich.
"und dann hatte ich eine schreibblockade. ich saß da vor dem leeren bildschirm und nichts ging mehr, aber es musste ja was gehen, denn sonst gab es keine kohle. zumal da sehr viele andere talente waren - auf mich hat keiner gewartet."
"kenn ich", sage ich wieder, "also ich war immer in miesen kleinen klitschen, nie in großen agenturen, aber da ist es genauso furchtbar."
"kein zusammenhalt, weißt du... da hat einer den anderen ausgebootet. aber dann hatte ich einen lichten moment."
"lichter moment? biste amok gelaufen?"
"nein, ich bin einfach aufgestanden, hab noch schnell eine übergabe geschrieben, hab meinem chef gesagt, ich gehe jetzt, und dann bin ich gegangen."
"krass."
"und dann hab ich mir einen therapeuten gesucht."
"wovon hast du gelebt?"
"ich hab vier monate gar nichts gemacht, das ging aber auch nur, weil ich noch bei meiner freundin lebte. die musste in dieser zeit halt alles bezahlen, aber das tut man ja in einer partnerschaft."
"macht nicht jeder partner mit."
"dann wärs ja kein partner."
"ich war damals zum zeitpunkt des großen zusammenbruchs sowieso allein. ich konnte nie aufhören zu arbeiten. entweder aufhören und existenziell vor die hunde gehen, oder weitermachen und die seele weiterhin vergewaltigen."
"und du hast dich für letzteres entschieden."
"ja."
"nicht gut. deine eltern hätten dir nicht mal ein paar monate über die runden zu kommen helfen können?"
"die wissen nix. die leben da so in ihrer kleinen welt, die können sich das nicht vorstellen. und die sind schon bei kleinigkeiten immer derart überfordert, die würden sich nur sorgen machen und mich dann mit ihren sorgen ganz verrückt machen."
"dann warst du ja wirklich richtig allein, mann."
"ich bins immer noch. aber ich hab mich arrangiert. ich hab auch ein paar freunde, nicht so sehr hier, aber so ein paar außerhalb, die mich ertragen und die ich dafür sehr, sehr schätze."

"das ist ja richtig harter tobak für ein treffen nach 14 jahren", findet der exmedizinstundent-texter. "ich kanns aber immer noch nicht glauben, dass eine frau wie du keinen mann findet."
"ich hatte viereinhalb jahre eine affaire, die mich ziemlich mitgenommen hatte. da war mein herz einfach ziemlich besetzt, während ich für ihn wenig oder vielleicht auch nichts war außer ein stück fleisch zum ficken."
"und jetzt willst du nicht mehr."
"was heißt, ich will nicht mehr... ich kann einfach keinem mann mehr vertrauen. manchmal glaube ich, es ginge noch eher mit einer frau, aber mit frauen ertrage ich schon kaum eine freundschaft. ich hab einfach einen komplett anderen kosmos als die meisten von denen. ehrlich, du, alleine sein ist das beste, was mir mein leben derzeit zu bieten hat."

der exmedizinstudent-texter schweigt und sieht mich lange an.
"hast du mal dran gedacht, ein buch über all das zu schreiben?" fragt er.
"ja klar. irgendwann mach ich das auch."
"mach das. unbedingt. zu erzählen haste doch genug und schreiben kannste sicher auch."

dann knurrt mein magen laut und peinlich.
"wollen wir was essen gehen", fragt der exmedizinstudent.
"gerne."
"magst du asiatisch?"
"ich lebe quasi von dem zeug."
"ach nee, ich auch!"
"dann mal los."

es ist spät, so spät, dass wir kaum mehr ein geöffnetes restaurant finden, aber dann landen wir doch in einem imbiss und essen lauter kleine köstlichkeiten, bis wir fast platzen.
"das können wir gern mal wieder machen", finde ich. "also falls du willst."
"ja klar", sagt der exmedizinstudent.

als wir gezahlt haben, gehen wir zu meinem rad, das zum glück zwischenzeitlich noch nicht geklaut wurde.
"machs gut", sagt der exmedizinstudent und umarmt mich.
"du auch."
dann fahre ich durch die nacht. mit dem schönen gefühl, dass man an diese begegnung doch theoretisch anknüpfen könnte.

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