Sonntag, 17. Mai 2015
mit 100 kmh
am nachmittag kommt die lederjacke zu mir, um ihre promotion vorzubereiten. wir schreiben vier stunden, dann bin ich alle, unter anderem auch, weil das thema hundertfünfzig prozent aufmerksamkeit verlangt und ich mich damit noch viel zu wenig auskenne.
"ich beneide dich so um diese chance", sage ich warm und schaue die lederjacke liebevoll an.
"is aber n haufen arbeit, verdammt", schnauft die lederjacke, um dann hinzuzufügen:
"aber wenn ich erstmal prof bin, du... dann hab ich meine 4000 tacken und kauf mir ne finca, und da sitz ich dann die fünf monate semesterferien im jahr und bereite meine seminare vor!"
ich schmunzle:
"heirateste mich, bevor ich flaschensammlerin in deutschland werden muss?"
die lederjacke schüttelt energisch den kopf und meint:
"wohnen kannst du natürlich bei mir. aber heiraten ist doch quatsch! das mach ich nicht. nie im leben. so ein verlogener scheiß!"

später sitzen wir in meinem lieblingsimbiss und teilen uns nudeln und ein fischgericht.
"was soll denn nun aus mir werden?" frage ich die lederjacke mal wieder. "was würde denn zu mir passen?"
"mach doch das ref", rät mir die lederjacke zwischen zwei gabeln glasnudeln.
"was würde mich denn in deinen augen dafür qualifizieren, lehrerin zu sein?"
die lederjacke denkt scharf nach und sagt dann:
"du bist so ein unglaublich guter mensch, du könntest kindern ganz viel geben, weil du so empathisch bist."
"boah, lederjacke", rufe ich. "genau deswegen wäre ich doch total am arsch als lehrerin. ich wäre der punching-ball im null-bock-kampfring! als lehrerin musste hart sein, knallhart und cool und darfst nichts an dich ranlassen. nicht den scheiß der kinder, nicht den krampf mit den eltern, nicht das gesülze der kollegen und schon gar nicht das bewusstsein, dass du für ein schweinesystem arbeitest, das auf die totale ersetzbarkeit in einer leistungsgesellschaft und soziale kälte vorbereitet!"
"hm", sagt die lederjacke, "so gesehen haste schon recht. aber für den ein oder anderen wärst du eine offenbarung."

als wir fertig mit dem essen sind, bin ich ganz aufgewühlt. ich denke daran, dass es mit tabletten viel einfacher war. just in diesem moment schaut mich die lederjacke von der seite an und sagt:
"du, ich finde das übrigens ganz großartig, dass du so stark bist und die medikamente abgesetzt hast."
"danke", sage ich leise.
"wie ist das eigentlich so, wie sind da die unterschiede?"
"körperlich oder geistig?"
"beides, wenns für beides unterschiede gibt."
"also, erstmal schlafe ich viel weniger... und ich habe wieder mehr schmerzen, weil die anspannung steigt und ich total verkrampfe. das ist das körperliche. im kopf ist alles wieder viel intensiver. ich kann so in den himmel schauen oder in die blätter eines baums und es ist wahnsinnig schön, so schön, dass ich mich dadurch mit der ganzen welt verbunden fühle... die kehrseite ist, dass alles traurige auch wieder viel intensiver ist. ich habe wieder viel mehr angst - vor menschen, vor meiner sozialen lage, vor jedem tag. alles ist schwieriger und sperriger, der kopf rattert die ganze zeit und ich hab angst, dass mir irgendwann die sicherungen durchbrennen. aber ich versuche, die angst auszuhalten. es muss sich doch auch mal einpendeln, meinst du nicht?"
die lederjacke lächelt unsicher, das ist nicht ihr terrain, doch dann sagt sie:
"das mit dem rattern im kopf kenn ich auch, ich kann auch ganz schwer abschalten. aber versuchs doch mal als gabe zu sehen. du kriegst viel mehr mit als andere. für irgendwas muss das doch auch nützlich sein."

solange ich mit der lederjacke unterwegs bin, geht es mir gut. zuhause dann packt mich die große leere wieder. zum glück schreibt mir v., ob ich nicht noch mit ihm was trinken gehen möchte. dankbar antworte ich mit ja und verabrede mich mit ihm auf dem kiez.

als ich bei der kneipe ankomme, in der wir uns treffen wollen, findet dort gerade eine schlägerei statt. ich drücke mich an die hauswand und hoffe, dass mir keiner auf die fresse haut. dann kommen auch schon die bullen angerast mit tatütata, vier autos insgesamt. die ordnungshüter springen aus den wagen und krallen sich die unruhestifter, nur einer entkommt, aber eine junge frau, die offensichtlich auch mit in den kampf verwickelt war, hetzt zwei polizisten auf den flüchtenden, der dann auch gleich aus dem trubel herausgezerrt, gegen ein auto geworfen und durchsucht wird.
ich drücke mich ganz vorsichtig an den immer noch schreienden und sich wehrenden menschen vorbei und verschwinde in der kneipe, wo v. schon auf mich wartet.
"da draußen gehts ja ab", sage ich zur begrüßung.
"ach, das ist halt großstadt", sagt v. beruhigend und umarmt mich.

v. hat mir schon einen gin tonic geordert und eine warme welle schwappt über mein herz, weil ich das eine so schöne geste finde.
dann will v. erstmal wissen, wie sich der zustand meinerseits hält. ich berichte.
"meinst du, du ziehst das weiter durch?"
"weiß nicht. in zwei wochen hab ich wieder termin in der klinik, da bespreche ich das mal. ist halt irre anstrengend so. alles sehr fragil, aber auch irgendwie schön. so mehr ich, weißte?"
"und denkst du dann auch mehr an suizid?" will v. wissen.
ich überlege.
"das thema ist präsenter, ich würde auch sagen, dass in einer akuten situation die hemmschwelle vielleicht niedriger läge... aber insgesamt kann ich das im moment noch ganz gut durch geistige anstrengung ausbalancieren."
"hast du keine angst, dass es dich einfach mal überkommt?"
"das kann ich mir ehrlich gesagt so konkret gar nicht vorstellen."
"ich hatte ja mal so einen moment..."
"wie meinst du das?"
"das ist schon länger her, ich kam damals gerade von meiner freundin, war eigentlich ganz gut drauf, und dann hatte ich irgendwie so einen impuls... und hab das auto gegen nen baum gesetzt."

ich mache augen wie untertassen und bin erstmal sprachlos.
"aber daraufhin haben sie dich doch sicherlich eingebuchtet?" frage ich, als ich mich wieder berappelt habe.
"nee. also, der fall wurde natürlich untersucht, gab ja keine bremsspuren, es war eine freie strecke und ich hatte 100 sachen drauf. aber der polizist meinte bei der vernehmung ganz lapidar, ist ja jedem seine sache, was er mit seinem leben macht. meine freundin war damals übrigens auch ganz cool und sagte, wenn du meinst, dann bring dich halt um."
ich überlege.
"eigentlich ganz clever."
"das hat mich damals echt verletzt!"
"ja, aber... das ist gut, wenn sich jemand nicht emotional erpressen lässt, weißte? das objekt war in solchen momenten auch immer ganz distanziert und klar und hat mich in die pflicht genommen."
"wie, in die pflicht genommen?"
"wenn ich am telefon rumgeheult hab, vonwegen ich will nicht mehr, dann sagte es meist nur, gut, du hast zwei möglichkeiten, ich rufe jetzt den krankenwagen, oder du überlegst noch mal und wir vereinbaren was."
"und das funktioniert?"
"solange jemand absprachefähig ist, also trotz emotionalem stress auf gewisse geistige ressourcen zurückgreifen kann, geht das."
"ich habe immer gedacht, dann sollte man jemanden vielleicht einfach mal in den arm nehmen?"
"könnte man, aber die gefahr ist dann halt, dass der andere dann immer mit suizid droht, nur weil er in den arm möchte."

wir sitzen eine weile da und gucken stumm vor uns hin.
"trotzdem, ich bin noch immer ganz schockiert", sage ich dann und schaue v. an. "ich hätte dir das nicht zugetraut."
"ich habs mir selbst nicht zugetraut. das war ein bruchteil einer sekunde, in der ich das entschieden habe."
ich schaue in meinen leeren gin tonic und überlege, ob das der moment für eine umarmung wäre, bis mir klar wird, dass ich mit medikamenten gar nicht überlegt hätte, also überwinde ich mich und nehme v. kurz in den arm. ich denke nach, ob ich noch etwas sagen sollte, etwas kitschiges wie "mach das nie wieder", aber ich entscheide mich dagegen, versuche nur, ein bisschen nähe zu geben und fertig.
"du zitterst", sage v. schmunzelnd, als er mich wieder loslässt.
"ist die anspannung, weißte, ich bin nicht so gut in sowas."
"warum?"
"vielleicht, weil ich denke, dass du nicht umarmt werden möchtest? oder zumindest nicht von mir?"
"warum sollte ich nicht von dir umarmt werden wollen?"
ich gucke wieder in mein glas und schäme mich für mein misstrauen.
"ich fand das gerade echt schön", sagt v. noch, aber ich schaue nicht hoch, also schweigen wir lieber schnell wieder.

als wir am ende des abends vor die kneipe treten, ist es längst hell.
"scheiße, schon halb sechs", sagt v.
"ich mag das", sage ich. "jetzt noch schön radfahren, das wird mir gut tun."
"da hätte ich sowas von keinen bock drauf."
ich grinse:
"wenn ich kohle hätte, würde ich jetzt natürlich auch ein taxi nehmen."
"wenn du eines brauchst, sag bescheid."
"nee, lass mal."
dann verabschieden wir einander.

als ich die straßen entlang radle, umfängt mich der morgen mit seinem speziellen licht und einem duft, der an jeder ecke anders riecht. ein bisschen regen kommt ab und an von oben, aber für den moment ist alles in mir friedlich und freut sich auf das bett.