Freitag, 31. Januar 2014
mein roter schutzgeist
nachdem die wenigen restlichen möglichkeiten zur rettung meiner existenz nach und nach wie seifenblasen platzen, bewege ich mich in einem merkwürdigen schwebezustand, ähnlich wie damals nach der krebsdiagnose. ich renne nach wie vor wie besessen in meine arbeit, wo ich derzeit vorwiegend buchhaltungsinventur mache, ein arschlochjob, aber er hält die gedanken beisammen und erlaubt keine fehler. danach beeile mich, nach hause ins bett zu kommen. da ich nachts nicht mehr schlafen kann, muss ich ein wenig schlaf tagsüber nachholen. ich flüchte mich in den schlaf. nicht denken müssen, die gedanken sind ohnehin nicht produktiv.

das klappt nicht immer. heute erwischt mich das objekt mitten im down.
"ach verdammt", sagt das objekt, als es die lage gepeilt hat, "kannst dus mir erzählen?"
wie immer wenn ich exzessiv heule, bekomme ich schluckauf und kopfschmerzen und kein vernünftiges wort raus. ich setze ein paar mal an, komme aber mit meinen sätzen nicht zum ende.
"weißt du was", sagt das objekt irgendwann, "du hast jetzt 20 minuten, dich zu beruhigen. zwischenzeitlich komm ich kurz rum, ich hab eine stunde, dann muss ich meinen sohn vom sport abholen."
"okay", flüstere ich.

ich taumle ins bad, um kurz meine heulfresse zu begutachten. nix zu machen, finde ich, also bleiben wir heute eben hässlich.
dann klingelt auch schon das objekt an der tür. ich stehe im flur, das gesicht verquollen, trage nur slip und t-shirt und meine bettdecke, die ich um mich schlinge.
das objekt guckt ein bisschen betreten, versucht aber die fassung zu wahren.
"möchtest du dich umarmen lassen?" fragt es vorsichtig.
"ich schäme mich so", sage ich.
"wofür?"
"für alles, was ich bin."
das objekt nimmt mich vorsichtig bei den schultern und zieht mich dann langsam, ganz langsam zu sich heran.
"lass einfach los, wenn du kannst", sagt es. ich lehne die stirn an seine schulter und stecke die nase in die warme achselhöhle. meine tränen tropfen still in den objektiven pullover. das objekt hält meinen kopf, streichelt meinen nacken und wiegt mich beruhigend.

wir setzen uns auf mein bett. ich rolle mich im schoß des objekts ein und das objekt breitet die decke über mich.
"was ist es, was dich im augenblick so runterzieht? die existenzielle situation?"
"ich weiß nicht mehr, was ich machen soll."
"wie ist das mit deiner arbeit? ist das ein guter ort oder kostet dich das gerade kraft, die du nicht hast?"
"das ist ein guter ort, aber es ist im moment schon auch anstrengend. ich kann nicht wirklich klar denken."
"ich würde mich an deiner stelle überlegen, ob du dich nicht krankschreiben lässt und die zeit nutzt, um einen plan zu fassen."
"wenn ich jetzt allein zuhause sitze, komme ich nur auf dumme gedanken."
das objekt schaut skeptisch.
"was meinst du damit konkret?"
ein blick genügt und das objekt hat verstanden.
"dann lass dir halt und struktur geben von deinem job, aber du musst die grenze wahrnehmen, an dem das in verzweifelte routine und kraftraub ausartet."
ich nicke.
"wann ist dein nächster freier tag?"
"samstag."
"und dann?"
"sonntag."
"weißt du, was du da machst? ist da jemand bei dir?"
ich schüttle den kopf.

das objekt überlegt.
"wenn ich sonntag von der arbeit komme, könnten wir uns treffen."
"ich will aber nicht, dass du aus mitleid mit mir rumhängst."
das objekt schaut betroffen.
"morphine, ich will, dass du weißt, dass ich dich sehr gerne habe, und das sage ich nicht in nur wegen der situation. ich finde, du bist eine faszinierende persönlichkeit, und zu dieser persönlichkeit gehört auch deine ganze geschichte. ich mag deine geschichte kennen, mit all ihren dunklen flecken, und ich mag dich auf deinen höhenflügen genauso wie jetzt in deiner verzweiflung."
"es tut mir leid", weine ich, "aber ich kann gerade nichts mehr an mir erkennen, was irgendwie... mit freude verbunden sein könnte, auch für andere."
"ich weiß ja... ich weiß ja...", beschwichtigt mich das objekt und schaut dann etwas ratlos zur wand.

"die lage ist so, wie sie ist, einfach neu für mich", erkläre ich. "ich hab mich bislang immer selber aus der scheiße geholt. oft nur ganz knapp, aber es hat immer funktioniert. inzwischen fehlen mir die ideen zum überleben. es ist alles ausgereizt."
"ich vermute, du musst dich komplett neu orientieren", sagt das objekt vorsichtig. "auch wenn du deinen job magst und ihn gut machst, aber das ist so ein haifischbecken... denk ruhig mal quer und vielleicht magst du tatsächlich was ganz anderes machen. nicht unbedingt schule, weil das wäre meines erachtens der weg vom regen in die traufe. aber so... du hast studiert, du hast fünf jahre gearbeitet, teils sogar in einer leitungsfunktion... da muss doch was gehen."
"ich hab fast ein jahr gesucht, bis ich meinen jetzigen kleinen job hatte. das war der totale horror, das will ich nicht noch mal erleben müssen."
das objekt schmunzelt und schaut mich offen an:
"liebe morphine, ich fürchte, menschen wie du und ich werden es immer schwer haben, weil wir keine arschlöcher sind. und es wird auch nicht leichter mit der zeit, weil die zeiten immer härter werden."
"und wie schaffst du es, davor keine angst zu haben?"
"ich sag ja nicht, dass ich keine angst habe. aber ich weiß, dass ich mich auch mit 80 noch in den spiegel schauen und mir sagen kann, ich habs es gut gemacht. so gut es eben ging, aber mit dem herzen. ich werde nie reich oder glücklich sein, aber ich muss es deswegen noch lange nicht schlecht haben."

ganz unbemerkt habe ich mich gesammelt und aufgehört zu weinen.
"kann ich dich jetzt allein lassen", will das objekt wissen.
ich nicke.
"und mach dir mal gedanken. wenn dus nicht für dich tun willst, dann für mich. mach mich stolz, kleine große morphine."
ich muss grinsen.
"dich hätt ich gern zum vater gehabt. ehrlich."
das objekt lächelt zurück:
"das ist ein schönes kompliment, aber ich hab es lieber so. dann kann ich dir auch mal den schwanz in den mund schieben, damit du die klappe hälst."
ich kichere und schubse das objekt zur tür.

"denk dran, sonntag will ich ergebnisse hören", sagt das objek zum abschied.
ich nicke.
"und wenn dir danach ist, schick ruhig zwischendurch mal eine brieftaube."
ich umarme das objekt.
"danke für alles."
"schnauze, süße", erwidert das objekt und küsst mich einmal tief. dann springt es flink die treppe hinunter und verschwindet wie ein guter geist, der mir ein päckchen zuversicht vorbeigebracht hat.