Donnerstag, 12. September 2013
klinisch glücklich
meine psychiaterin in der klinik ist krank, also behandelt mich heute ein kollege.
"irgendwo her kenne ich sie doch", sagt der doc zu mir.
"das ist kein kunststück, ich komme seit mehr als einem jahr hierher in die ambulante behandlung", sage ich. "ich kenne sie auch, vom sehen, sie huschen hier ja auch dauernd rum."
der doc lacht. er ist klein, rund, jung und hat einen vollbart. er ist mir auf anhieb sympathisch.

er will wissen, wie es mir geht und warum ich den termin vorverlegt habe. ich berichte, dass es mir theoretisch gut geht, was die depression betrifft, ich aber aufgrund des aktuellen 60-stunden-jobs, des ständigen bewerbens, der konstanten enttäuschungen, der anhaltenden finanziellen knappheit und meiner willich-willichnicht-beziehung, die mir die letzten reste meiner zeit kostet, akut ein bisschen sehr am durchdrehen bin. offenbar brauche ich depressionsbedingt nicht mehr mehrere monate, bis ich panikattacken und ohnmachtsanfälle kriege, das klappt jetzt auch schon früher.

"sie müssen mit ihren kräften haushalten", mahnt er mich sanft, "sie haben nicht dieselben ressourcen wie andere."
"das interessiert aber keinen chef", erwidere ich. "zumindest nicht in meiner branche. endweder man ist ein übermensch, oder man ist weg vom fenster."
"und was erwarten sie jetzt von mir?"
"helfen sie mir, an meine ressourcen zu kommen."
"nein."

klare ansage. ich schaue dumm.
"was haben sie denn gedacht", grinst der doc.
"keine ahnung. verschreiben sie mir ritalin, irgendwas, was mich zu einer schnellen, leistungsfähigen arbeitskraft macht", grinse ich zurück.
"ich habe eher ans gegenteil gedacht", sagt der doc.
ich gucke gespannt.
"haben sie ein suchtproblem?"
das erste mal, dass ich das so direkt gefragt werde.
"äh, warum, sehe ich so aus", versuche ich locker zu bleiben.
"naja, ich muss das wissen", beschwichtigt der doc.
"also so direkt nicht. ich habe mal sehr viel speed genommen, das war wohl auch ein auslöser der depression."
"also nehmen sie drogen?"
"nein, nicht mehr."
"wie lange nicht mehr?"
ich rechne.
"18 monate", antworte ich und bin selber ganz perplex.
"aha, und wie haben sie damals entzogen?"
"gar nicht. einfach nicht mehr genommen."
der doc zieht die augenbrauen hoch.
"das ist außergewöhnlich."
"aber es stimmt."
"ich sage ja nicht, dass es nicht stimmt. aber dann haben sie offenbar einen starken willen und das ist gut."
ich muss geschmeichelt grinsen.
"also nehmen sie keine drogen mehr?" fragt der doc nochmal nach.
"nein", sage ich. "ab und zu kiffe ich, das ist alles."
"also nehmen sie doch drogen", lacht der doc.
"na gut, also wenn dreimal im monat kiffen drogen nehmen ist, dann nehme ich drogen."

der doc kritzelt in seine akte.
"sie schreiben das jetzt nicht auf, oder? das ist doch lächerlich. mein exlover kifft zehn joints am tag."
"das ist alles nicht irrelevant, sondern zeigt, wie sie ihre probleme lösen, also zumindest dreimal im monat gar nicht."
"ich löse ständig probleme! und ich muss aber auch manchmal schlafen und das geht nicht, wenn man dauernd probleme wälzt, und deshalb rauche ich eben ab und an mal einen."
der doc lächelt beschwichtigend.
"schon gut, sie rauchen ja kein heroin. wie sieht´s aus mit alkohol?"
hui. ich nicke nur.
"täglich?"
"hm... nee."
"wie oft?"
"fünfmal die woche?"
"das ist viel."
"mann! ich trinke zwei gläser wein, dann bin ich eh schon am pennen mit den tabletten. das sind alkoholmengen, die trinken meine eltern auch!"
der doc schaut erleichtert.
"naja, gut, das ist nicht allzu viel, obwohl ich ihnen vor dem hintergrund der medikation dringend abraten muss."

ich gucke genervt.
der doc ist wieder ganz entspannt und erklärt:
"ich frage so genau, weil ich ihnen ein medikament geben werde, das sehr schnell süchtig macht. bei ihrer vorgeschichte bekommen sie auch kein rezept, sondern hier direkt was aus meinem notfallkoffer."
"was für ein medikament?"
"benzodiazepine."
"aha."
"wie haben sie das speed damals genommen? geschnupft?"
ich nicke.
"okay. dann bekommen sie jetzt keine tabletten zum schlucken."
"sondern?"
"die können sie im mund zergehen lassen, das heißt, die können sie nicht mit der kreditkarte zerkleinern und anschließend durch die nase ziehen."
der doc will mich verarschen, denke ich.
"ich habe noch NIE ein medikament durch die nase gezogen!"
"ich bin nur vorsichtig. nicht, dass sie an liebgewonnene rituale anknüpfen."
"haha."

ich bekomme vier tabletten ausgehändigt.
"nur wenn es nötig ist und niemals mit alkohol zusammen nehmen!"
"okayokay."
und dann kommt die überraschung.
"und jetzt schreibe ich sie für den rest der woche krank."
ich mache den mund auf, um zu protestieren, aber der doc hebt die hand und bedeutet mir zu schweigen.
"sie haben hundsmiserbal bis gar nicht geschlafen, sie stehen unter einer enormen anspannung, sie gehen jetzt nach hause, nehmen eine tablette und legen sich ins bett."
wie auf knopfdruck fühle ich mich plötzlich ganz entspannt und ungeheuer müde, sodass ich auch gleich gähnen muss.
"sehen sie", sagt der doc, "ihr körper weiß schon, was er braucht. und sie haben sternchenpupillen, gerade so, als hätten sie drei nächte durchgerockt."

an der anmeldung bekomme ich den gelben schein und einen folgetermin, weil mich der doc vor dem wochenende noch mal sehen will.

fast beschwingt fahre ich nach hause, melde mich krank und lege mich ins bett. kurz darauf bin ich im reich der träume und wache erst 14 stunden wieder auf.