Montag, 23. April 2012
a love like kraut und rüben
am sonntagmorgen nach dem üblichen clubbesuch ging ich zusammen mit meinem neuen bekannten t. durch die straßen von bahrenfeld. bis auf das gepiepse der vögel und das entfernte brummen der autos war es totenstill.

die sonne schien, doch es war arschkalt. wir waren fast alleine unterwegs. hin und wieder begegneten uns menschen vom typ muddi und vaddi, die ihre wauzis und fiffis zum kacken ausführten. muddi und vaddi starrten uns durchgefeierte gestalten an und zerrten fiffi und wauzi energisch an der leine weiter. t. und ich starrten zurück und beneideten muddi und vaddi klammheimlich um ihre polartauglichen nanotech-funktionsjacken, denn wir waren beide durchgetanzt, erschöpft und schlotterten in den frischen morgendlichen temperaturen.

"scheiße, ist das kalt", wiederholte ich mehrfach und schlang meinen maximal atmungsaktiven da vollkommen ungefütterten stoffmantel enger um mich.
"wenigstens hast du stiefel an", erwiderte t., der mit den zähnen klapperte.
"lack hält echt null warm", versicherte ich t. "aber im gegensatz zu dir hab ich wenigstens noch ein bisschen unterhautfettgewebe!"

seit der trennung von seiner durchgeknallten freundin war t. nur noch ein schatten seiner selbst, psychisch wie physisch. selbst auf meiner geburtstagsparty hatten wir ihn nur mühsam zur nahrungsaufnahme überreden können. vor ein paar stunden im club gelang mir ein kleines wunder und ich konnte t. eine handvoll erdnüsse einflösen, nachdem ich sein zerebrales kummer-zentrum zuvor mit sechs oder sieben tequilas und zahlreichen bieren narkotisiert hatte. infolge der alkoholisierung wurde t. ein wenig zutraulicher und gab ein paar intime details über sein aktuelles leben preis. dieses gestaltete sich insofern schwierig, da t. vom schrecklichen liebeskummer einmal abgesehen dringend aus der ehemals gemeinsamen wohnung ausziehen musste, weil er sich die miete alleine nicht leisten konnte. t. war ein kollege des objekts und somit finanziell ähnlich schlecht aufgestellt, obwohl er fachkrankenpfleger und kinderlos war, in vollzeit arbeitete und kein kostspieliges drogenproblem finanzieren musste. das sowie die tatsache, dass er noch nie per haftbefehl gesucht worden war oder wochen hinter schwedischen gardinen verbracht hatte, machte t. in meinen augen vertrauenswürdig.
"also notfalls kannst du übergangsweise auch zu mir ziehen", schlug ich t. vor.
"danke", sagte t. "ich überlegs mir."

da t. nicht nur ein kollege des objekts, sondern wie dieser aus der nähe der polnischen grenze stammte und um drei ecken mit ihm verwandt war, nutzte ich die gelegenheit zur informationsbeschaffung.
"haste was gehört?"
"der hat wohl neulich mit den azubinen in der klinik wilde parties gefeiert. dieses wochenende hat er aber den sohnemann bei sich, deshalb war er auch nicht im club."
"und das mit dem lütten geht so, in diesem winzigen zimmer, in dem er jetzt haust?"
"naja, so klein ist das nicht. 20 quadrat oder so."
"aber er hat keine küche und kein bad."
"doch, bad hat er. da ist so eine kleine dusche drin - wie in einem etap-hotel. nur die küche ist eben eine gemeinschaftsküche."
ich dachte an die zahlreichen vergeblichen wohnungsbesichtigungen und daran, dass dem objekt die küche bei einer wohnung immer das wichtigste gewesen war, denn "da lebt die familie", so objekt-o-ton.

"ich hab ja auch mal so klein gewohnt, aber das war echt nicht schön", erinnerte ich mich.
"war das da, wo dieser typ bei dir durchs fenster eingestiegen ist? der mit den drei verschwundenen borderliner-exfrauen?"
"jaja, genau das."
t. kicherte.
"abgefahren."
"das war krank. insofern: wenn du zu mir ziehst, hab ich dann wenigstens einen psychopathen-rausschmeißer im haus."
t. lächelte und meinte:
"mal sehen."

am kaltenkirchener platz verabschiedete ich t.
"ich muss da lang."
"aha, zu deinem geheimnisvollen liebhaber", sagte t. und meinte damit den menschen.
"dann... wünsch ich dir viel spaß. und vielen dank noch mal für das angebot, du bist echt ne liebe."
ich umarmte t. und hielt ihn ein weilchen fest, bevor ich mir dann auf den weg zum menschen machte.

weil es so schrecklich kalt war, joggte ich das letzte stück und klingelte beim menschen sturm. zu meiner großen überraschung öffnete mir ein unbekannter junger mann, der mich verschlafen wie eine schleiereule anblinzelte. dann stellte er sich vor:
"hi, ich bin b., ich wohne jetzt im hinteren zimmer."
ich starrte b. perplex an, erinnerte mich, dass der mensch einmal etwas von einem zukünftigen mitbewohner erwähnt hatte und fragte b. dann nach dem menschen.
"der ist vorhin in die klinik gefahren, der hatte so arge kopfschmerzen."

im zuge des erblindens leidet der mensch hin und wieder unter extrem starken kopfschmerzen, gegen die es keine legalen gegengifte gibt. die ärzte sind in der regel ratlos. seit der mensch mich kennt, experimentiert er mit dem, was ich beschaffen kann. und siehe da, wir verzeichnen erfolge: so hatte sich thc als so ziemlich einziger zuverlässiger painkiller erwiesen. aber natürlich bekam der mensch das nicht auf rezept.

ich rief den menschen auf dem handy an. zum glück ging er gleich ran.
"wo bist du?"
"ich war eben beim augenarzt, jetzt warte ich noch auf den neurologen."
"wann kommst du raus?"
"keine ahnung, die nehmen erst die schweren fälle dran. außerdem werden die mir sowieso wieder nicht helfen können."
ich überlegte.
"dann geh doch nach hause und leg dich ins bett."
"süße, ich muss heute eigentlich arbeiten. ich muss bis morgen ein projekt fertig haben. ich muss den kopf klarkriegen."
das schicksal der selbstständigen. krank geht einfach nicht.
"und wenn ich dir was zu kiffen besorge?"
"ich kann doch nicht immer kiffen, um meine kopfschmerzen loszuwerden. du hast manchmal echt vorstellungen!"
"na dann eben nicht."
ich legte auf und war ein bisschen verletzt, aber insgeheim auch dankbar, weil ich ja nichts bei mir hatte.

zehn minuten später rief der mensch wieder an.
"sorry, ich war eben doof zu dir."
"naja...", versuchte ich mich in souveränität und hoffte, dass es nicht gequält klang.
doch der mensch besitzt ein gespür für meine untertöne:
"doch. war ich. und es tut mir leid."
"schon okay. und nun?"
"ich war eben beim neurologen und wie erwartet hatte der keine ahnung, was er mit mir machen soll. ich hab ihm den ganzen fall quasi von kindheit an geschildert, und er faselte was von migräne und ich solle ibuprofen nehmen."
"ibu hab ich in der tasche."
"ibuprofen wirkt bei mir so wie aspirin, also gar nicht."
"achso. naja, und was nun?"
der mensch atmete tief ein:
"ich würde auf dein angebot zurückkommen. schließlich muss ich bis morgen was abgeliefert haben."

ich hielt inne. es war halb acht uhr morgens. ich stand sehr erschöpft in der eiseskälte mitten auf der straße und hatte nichts. außer das warme gefühl für den menschen in der brust.
"okay", sagte ich. "ich muss aber erst fragen, ob ich wo was bekomme."
"wenn nicht dann nicht", sagte der mensch. "bring dich nicht in gefahr."
"neinnein", sagte ich sarkastisch. "glaub bloß nicht, dass du mir wichtig bist."
der mensch lachte ein bisschen.
"dann bis nachher. achja, und alles, was du ausgibst, bekommst du natürlich wieder. und es ist mir relativ egal, wie viel das ist."
"du bist gerade für alles zu haben, was?"
"du weißt doch, wie das bei starken schmerzen ist."
"klar. ist ja gut, ich mach mich auf den weg. kann aber dauern."
"tausend dank!"

ich rief bei quelle nummer eins an. die schlummerte wie erwartet leider tief und fest. also wählte ich quelle nummer zwei, die, wie ich zunächst dachte, mit recht hoher wahrscheinlichkeit entweder noch wach sein oder durch das klingeln aufwachen würde. doch ich hatte pech.

ich überlegte. das objekt fiel mir ein. das sicherlich ohnehin gegen acht oder halb neun aufstehen würde, weil der lütte spätestens dann bespaßt werden wollte. ich zögerte, doch irgendwie war es mir egal und ich wählte die ach so vertraute nummer. es klingelte sechs- oder siebenmal an, danach ging die mailbox ran.

verdammt. wen könnte ich noch fragen? k. vielleicht. der hatte einen kollegen, der regelmäßig rauchte. vielleicht k. fragen, ob er eben mal beim kollegen anklingeln konnte? hm. das war peinlich.
just als ich das handy wieder in die hand nahm, rief jemand an. das objekt.
"hey!"
"morphine..." nuschelte das objekt verschlafen in den hörer. "was denn los? depressionen? überdosis geballert? todesfall irgendwo?"
"ääähhh... nö. ich hab ein ganz freches anliegen."
"wasn?"
"kann ich mir was von deinen küchenkräutern schnorren? jetzt sofort?"
das objekt musste lachen:
"das ist nicht dein ernst, oder?"
"mein voller", sagte ich streng.

"ich hab nichts hier", sagte das objekt dann, was ich sofort anzweifelte.
"du schwindelst doch?"
"nein, echt nicht. ich hab nur noch was im depot."
das objektive depot war ein drogen-grab im park.
"wenn du mir sagst, wo das ist, hole ich das da raus."
das objekt war inzwischen hellwach und analysierte:
"sag mal, morphine... irgendwas stimmt doch nicht bei dir. warum hat du so nen geier auf rauchen? hast du was geschnupft und kannst nicht schlafen?"
"nein, es ist alles okay. ich brauche das als schmerzmittel für jemanden."
das objekt seufzte.
"okay, du chaos-prinzessin... ich hab noch eine gute halbe stunde, dann wacht der kleine auf. wenn du mir sagst, wo du bist, komm ich rum."

eine viertelstunde später tauchte das objekt tatsächlich auf. es hatte waschbärringe unter den augen und die langen roten haare flatterten ungekämmt im wind. es kaute hubbabubba-kaugummi mit kirschgeschmack und küsste mich, indem es eine kaugummiblase an meiner wange platzen ließ.
"komm, ich hab nicht viel zeit."
es bedeutete mir, auf die fahrradstange aufzusteigen.
"geht das auf der stange mit dem mantel?"
"zieh ihn besser aus, der hängt sich sonst in die speichen."
"oooh neee, weißt du, wie kalt mir ist?!"
da streifte mir das objekt den mantel einfach ab und klemmte ihn auf den gepäckträger. es packte mich auf die stange, öffnete seine motorradjacke und zog mich an sich.

eingehüllt in objektduft und -wärme fuhren wir eine kleine strecke zum park. das objekt stiefelte zielsicher durch tulpen und narzissen und begann dann in wurzelnähe eines baumes zu scharren.
ich kam mir vor wie im falschen film und musste ununterbrochen grinsen. doch das objekt war flink wie ein eichhörnchen und zog kurze zeit später ein päckchen aus dem boden. es öffnete die tüte und reichte mir ein beachtliches häufchen böse kräuter.
"nicht so viel", wehrte ich ab.
"also wenn, dann muss sich das jetzt lohnen", fand das objekt.
"danke", sagte ich und gab ihm einen kuss auf den mund. "was schulde ich dir?"
"das kannst du halten wie du magst", erwiderte das objekt, großzügig wie eh und je.
"danke", sagte ich noch mal.

"wo musst du denn jetzt hin?", fragte das objekt, als wir wieder auf der straße standen.
"so richtung kieler straße."
"dann bring ich dich."
das objekt schlang mir seinen schal um den hals, dann fuhren wir wieder in seine jacke gepackt den weg zurück.
als wir in der straße standen, in der der mensch wohnte, kämpfte ich alle gefühle in mir nieder, während das objekt meinen mantel um meine schultern drapierte, verspielt imaginären staub abklopfte und fragte:
"willst du den schal behalten?"
"nein", sagte ich und befreite mich von dem weichen ding, das intensiv nach objekt roch. im eisigen luftzug begann ich sofort zu schlottern.
"ja dann... ich muss zu meinem sohn", sagte das objekt.
"tschüß", sagte ich kühl und peilte die haustür an.
als ich schon geläutet hatte, drehte ich mich noch einmal um. das objekt stand noch immer auf der straße und starrte mich an. dann ging der summer und ich rannte die treppen hinauf.

oben stand der mensch in der tür. er strahlte und zog mich an sich.
drinnen war es warm und sicher. es roch nach zuhause. während ich gegen neun uhr morgens in die hellblauen kissen kroch, setzte sich der mensch an den schreibtisch und begann zu arbeiten. der würzige geruch von brennenden kräutern zog durch die wohnung und killte endlich den letzten objektgeruch an mir.