Samstag, 14. Februar 2015
auseinandersetzung
gestern abend stehe ich, liebeskummergeflasht, vor der wahl: auf die als gemeinschaftliches ausgehevent geplante kulturveranstaltung gehen oder nicht? theoretisch bin ich noch erschöpfter als die tage zuvor und kann mir nicht vorstellen, bahn zu fahren. anderseits bedeutet kultur auch energie. etwas erleben, sich bewegen lassen. und das ganz jenseits der gefährlichen party-zone.

manchmal weiß ich nicht, woher ich die kraft nehme, um mir den impuls zu vermitteln, mich aufzuraffen. aber eine stunde nach der niederschmetternden nachricht stehe ich im bad und schminke mich. ich profitiere vom schock, der bewirkt, dass alles noch zu unwirklich ist, um darüber zu flennen. also keine heulfresse, sondern ein von der anspannung der informationsverarbeitung wunderbar glattgezogenes gesicht. eine hübsche maske, die anzumalen beinahe spaß macht.

man sieht mir nichts an. auch wenn ich mit einer 50er-packung tramal in der tasche auf einer parkbank sitze, sieht man mir nicht an, dass es mir irgendwie schlecht ginge und der gedanke, sich das leben zu nehmen, bedrohlich nahe ist.

als ich mit meiner geschminkten maske richtung bahn gehe, vernehme ich geschrei. normalerweise gehe ich nie ohne mp3-player außer haus, da ich mich von der realität abschirmen muss, aber gestern habe ich bewussst darauf verzichtet. musik macht nur sentimental.

ich nehme gerade die rolltreppe zum bahnsteig, als ich wieder geschrei höre. irgendwelche besoffenen, denke ich, ist ja freitag. dann aber stürmt ein blondes mädchen die rolltreppe hinter mir hoch, dreht sich um und sieht mich an. sie macht einen verängstigten eindruck, hat tränen im gesicht und eine schmutzige jacke. ich schätze sie auf 12 oder 13 jahre.

"haben sie... haben sie ein mädchen laufen sehen... wo ist sie hin...", stammelt die kleine verwirrt. ich gucke genauer hin. das mädchen wirkt geistig behindert auf mich.
"du bist die einzige, die ich hier laufen sehen", sage ich freundlich.
"da sin so.... da sin so... jungens... die sagen, weil du behindert bist... weil du behindert bist."
"weil du behindert bist, was?"
"aber da kann ich doch nicht für!"
"natürlich kannst du da nichts für."
"die hammich so... festgehalten... und getreten!"
jetzt bleibt mir der mund offenstehen.
"die haben WAS?"
"und nur, weil ich behindert bin!"
das mädchen hat schon wieder frische tränen im gesicht und impulsiv lege ich den arm um sie. sie klammert sich an meinen mantel.
"sind die denn noch da?" frage ich.
"nee... die sind weggerannt. aber das kann man doch nicht machen, nur weil ich behindert bin!"
"die welt ist leider voller arschlöcher", sage ich. "als ich so alt war wie du, haben mich auch immer jungs verprügelt."
die kleine guckt mich mit ihren großen blauen augen an:
"aber warum denn?"
"ich war gut in der schule. das provoziert neid. und ich war obendrein noch nett. das suchen solche typen, die dich fertigmachen wollen."
"aber sie sinn... nicht behindert!"
"nein", sage ich.

die kleine beruhigt sich langsam, lässt aber meinen mantel nicht los.
"musst du jetzt auch mit der bahn fahren?" will ich wissen.
die kleine schüttelt energisch den kopf.
"ich muss nach hause!"
"dann mach mal deine jacke zu, es ist viel zu kalt."
"die is schmutzig, jetzt."
"trotzdem kann man die zumachen."
ich knie mich vor das mädchen und zippe ihr den reißverschluss zu.

die bahn fährt ein.
"ich muss", sage ich und streiche dem mädchen die haare aus dem gesicht.
"kommst du klar?"
die kleine nickt.
"pass auf dich auf. und wenn noch mal was ist, dann gehst du da unten in den dönerladen. die sind sehr nett da, die helfen dir bestimmt."

in der bahn bin aufgewühlt und unzufrieden mit der situation. hätte ich die eltern anrufen müssen? oder die polizei?

und dann: immer auf die schwachen und wehrlosen. ich merke, wie mir wuttränen in die augen steigen, die zugleich auch traurigkeitstränen sind. die kleine hatte mich sehr an mich erinnert. und ich habe sie nicht geschützt. weil ich bis heute nicht weiß, wie man kinder vor mobbing und prügeleien schützt.

mit meinem psychologen hatte ich das einmal durchgesprochen.
"ihr eltern hätten sie schützen müssen", hatte er gesagt, als ich von den jahrelangen prügel-attacken in der grundschule erzählt hatte.
"was hätten die denn machen sollen? der einzige effekt wäre gewesen, dass die täter gewusst hätten, dass ich ein weinerliches mamikind und eine petze bin."
"sie hätten mit der klassleiterin sprechen können."
"haben sie ja. die sagte, sowas müssen kinder unter sich ausmachen."
mein psychologe hatte mich nur groß angeschaut.
"was hätten sie denn machen sollen?", hatte ich noch mal gefragt.
da saß er wieder und zuckte mit den schultern, wie so oft.

27 jahre später und immer noch opfer. ohne eine idee, ohne einen impuls.

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