Sonntag, 10. August 2014
zärtliche parasiten
der anruf kommt unerwartet gegen mittag. ein ehemaliger mitinsasse, der mich schon während meiner zeit drinnen mit großen augen verfolgt und mir einmal gestanden hatte, dass ich für ihn ein faszinierendes wesen sei.

heute hat er freigang und fragt, was ich so mache. wie immer habe ich keine sonntagspläne, außer dass ich auf mein spar-mittagsmenu vom lieblings-asiamann warte - das kulinarische highlight meiner woche, mangels anderweitiger highlights.

"ich könnte in einer halben stunde bei dir sein", sagt der mitinsasse.
"äh", sage ich und denke: der will bestimmt ficken.
"also nur wenn du willst", beschwichtigt der mitinsasse.
"wir könnten ja spazierengehen", schlage ich leicht hysterisch vor.
"das können wir doch auch nachher noch entscheiden", sagt der mitinsasse sanft.

nachher. nach dem fick?
ich bin skeptisch. anderseits: den ganzen sonntag alleine rumhängen? ich lausche in mich hinein. ein fick ist immer noch eine erträgliche dosis nähe, oder nicht? und wenn es nicht läuft, schicke ich ihn eben weg.
"okay", sage ich.
"schön", freut sich der mitinsasse.
herrimhimmel. ich sollte mal nein sagen lernen.

kurz darauf klingelt es an der tür. ich öffne und bin dann von mir selbst überrascht, denn ich freue mich. der mitinsasse tritt ganz langsam ein und zieht im flur die schuhe aus. wow. gut erzogen. das gefällt mir.
"bei dir siehts ja aus wie bei mir", sagt er, als er sich langsam umsieht.
"echt? lebt du auch im sperrmüll und so spartanisch?" versuche ich witzig zu sein.
"das ist nicht spartanisch, das hat stil", findet er.
aha.

er setzt sich in meinen besuchersessel, während ich tee mache. alkohol darf er nicht, wird ja in der klapse streng kontrolliert.
dann sitzen wir zusammen und reden über dies und jenes. es ist angenehm. ich entspanne mich langsam. vielleicht ist er ja doch nicht nur zum ficken gekommen.

als wir am fenster stehen und ich von meinem horror-volontariat erzähle, nimmt er mich unvermittelt in den arm. ganz ruhig und ganz sacht. ohne die hände wandern zu lassen wie andere es immer tun, um meinen hintern zu befummeln oder meine brüste zu betatschen. ich atme tief ein und aus. und werde ruhig. die anspannung fällt von mir ab. für einen moment brennen tränen der dankbarkeit hinter den augäpfeln, aber sie bleiben unsichtbar, trocknen. ich atme ein und aus im takt mit meinem besucher.

als wir uns lösen, sagt keiner etwas. es ist klar, diese umarmung war ein geschenk, mit dem wir uns gegenseitig beschämt haben.

wir gehen dann doch spazieren. aus einem impuls heraus führe ich den mitinsassen ins moor. wir sitzen am wasser und beobachten die enten, während die enten uns beobachten, ob wir nicht doch gleich etwas essbares aus der tasche ziehen.
"soll ich mal was gemeines machen" frage ich.
der mitinsasse nickt.
ich raschle mit einer packung taschentücher. daraufhin stürzen von überall enten aus den büschen und versammeln sich vor unseren füßen.
"das ist ein agentur-trick", erläutere ich. "man verspricht eine belohnung, woraufhin sich das team beide beine ausreißt, und wenn der erfolg eintritt, nimmt man alles zurück."
der mitinsasse schaut mich lange an.
"dir ist viel scheiße passiert, was?"
"kann man so sagen. obwohl ich nicht behaupten möchte, das meine scheiße so wahnsinnig viel schlimmer ist als die der anderen."
da legt der mitinsasse seinen arm um mich, und ich krieche hinein.

später stehen wir an der u-bahn. ich ertappe mich, dass ich breit grinse.
"das war eine gute idee, dass du vorbeigekommen bist", sage ich.
"finde ich auch", strahlt der mitinsasse. "mir gehts gerade richtig gut."
"mir auch."
"sehen wir uns wieder?"
ich nicke.

dann drehe ich mich um und gehe. der mitinsasse winkt noch einmal vom gleis, ich winke zurück. und kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte mal so wohlgefühlt habe.

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nadelöhr
party-versuch. ich tauche gutgelaut ins nachtleben, aber kaum bin ich unter leuten, schlägt die soziale lähmug zu. ich klebe in der ecke, sauge an einer zigarette und bin nicht in der lage, ein bier zu bestellen. los jetzt, du dumme kuh, sage ich mir, aber die dumme kuh will nicht vom eis.

aus der menge löst sich der architekt und grüßt mich. die soziale lähmung lässt nach einigen sätzen nach.
"wie findest dus heute", will der architekt wissen.
"nicht so pralle", sage ich. die lieder sind alle tausend mal gehört, die leute sind schrecklich besoffen oder schrecklich hässlich oder beides, und ich bereue es, den weg hierher gemacht zu haben.
"du warst aber schon länger nicht mehr hier", stellt der architekt fest.
"ich war sozusagen nicht in freiheit."
der architekt schmunzelt.
"klingt, als wärst du im knast gewesen."
"so ähnlich. psychiatrie. so richtig mit nicht rausdürfen und so."
"warum denn das?"
"ich habe ein bisschen zu überzeugt vorgehabt, mich aus diesem leben davonzumachen."
der architekt guckt und guckt und weiß offenbar nicht, was er sagen soll.
"du musst das jetzt nicht kommentieren", nehme ich ihm die verlegenheit.
"äh ja. menschen sind schon seltsam", sagt er dann.
"definitiv. und man steht als seltsamer auch immer auf verlorenem posten."

der architekt schweigt und nuckelt an seinem bier.
"ich würde ja gern mal wieder knutschen", sagt er dann.
"ich stehe nicht zur verfügung", sage ich lächelnd. "außerdem wär das langwilig, du hattest mich ja schon."
"das wäre jetzt meines erachtens kein hindernis."
"ich weiß. aber für mich schon. ich habs satt. ich will nicht so einen luftikus. ich will einen menschen, der mich für ein bisschen länger erträgt als für eine zufällige begegnung."
der architekt wiegt den kopf.
"verständlich."

wir lehnen an der wand und schauen in die menschenmenge.
"da ist heute aber auch nix, was man knutschen könnte", finde ich.
"mann oder frau, was meinst du?"
"beides. ich bin bi, ich hab immer den blick auf beides."
der architekt lächelt.
"menschen sind schon komisch", sagt er noch einmal, und dann:
"aber ich mag das."
"ich mag das nicht mehr so, obwohl es auch interessant ist."
"was meinst du?!"
"nunja, es zieht mich an. es ist nicht langweilig. aber gleichzeitig... mag ich nicht mehr. ich hab mich so von den menschen verabschiedet, großtenteils. obwohl ich vermutlich süchtig bin nach begegnungen."
der architekt schaut verwirrt.
"das ist ein krasser grenzgang. wenn es die ganze welt gibt voller menschen, für mich gibts nur ein nadelöhr. das ist unheimlich schwierig", sinniere ich.

der architekt gibt das verstehenwollen sichtlich auf und schnorrt ein zigarette.
"ich werde gleich gehen", kündige ich an.
der architekt nickt.
"obwohl du ja gerade erst gekommen bist."
"nicht mein abend", erwidere ich.
"kannst du mir einen gefallen tun", fragt der architekt noch, und ich denke, was für einen gefallen, und träume einen augenblick davon, dass er sagt, bitte bring dich nicht um.
"gibst du mir noch ein zigarette für später?"
ich muss lächeln, weil ich so absurd denke, und gebe dem architekten die ganze schachtel.
"da."
der architekt guckt wieder verwirrt.
"ist okay", sage ich.

dann gehe ich.
ohne mein nadelöhr gefunden zu haben.

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