Sonntag, 8. Juni 2014
balanche
clubbing. gähnende leere, wie so oft zur festival-zeit. der architekt ist da und begrüßt mich. wir wechseln ein paar worte, dann ordere ich einen drink.

ich muss ihn bei der barkeeperin bestellen, mit deren mann ich mal geknutscht habe, das ist mir urpeinlich. doch als ich das getränk entgegennehme, schaut sie freundlicher, als ich es jemals erwartet hätte. also fasse ich mir ein herz und sage:
"du, ich wollte dir noch mal was sagen... ich will nix von deinem mann oder so. und er auch nicht von mir."
sie lächelt entspannt.
"das ist mir schon klar. aber das geht trotzdem nicht."
"das ist mir schon klar", grinse ich. "kommt auch nicht wieder vor."
sie dreht sich weg, wurschelt herum und schiebt mir dann einen schnaps hin.
eine schöne geste.

als ich den raum wechseln will, ist da plötzlich das objekt. ich hatte es nicht gesehen und vermutet, dass es auch nicht kommen würde, um eine unangenehme begegnung mit mir zu vermeiden. aber das objekt gibt sein revier niemals auf. genau wie ich.

als das objekt mich bemerkt und aufblickt, lächeln wir beide. ich lausche in mich hinein: keine schrecklichen gefühle, keine trauer, kein hass. es geht mir gut. dem objekt anscheinend auch. wir gehen aufeinander zu, nehmen uns kurz in die arme, dann geht jeder seine wege.

ich bin so gut drauf, dass ich mich sogar mit meinem lästigen dauerverehrer unterhalte, obwohl ich dabei zum wiederholten male feststelle, dass das zeitverschwendung ist, da bei ihm weder die inneren noch die äußere werte für mich stimmen. also verdünnisiere ich mich nach einer höflichkeitsviertelstunde wieder, um mich zurückzuziehen und noch einen zu heben.

am ende des abends, als schon der rausschmeißer erklingt, lässt sich das objekt neben mich plumpsen.
"herrjeh, bin ich durch", seufzt es. dem glasigen blick nach zu urteilen ist es bis zum anschlag voller stimmungsaufhellender substanzen, gelöst in einer größeren menge wodka-energy.
wir sitzen einfach nur da. wieder erwarten bin ich vollkommen unbefangen und fühle mich nach dem zweiten drink geradezu tiefenentspannt.
"ich kann mir gar nicht vorstellen, jetzt noch 40 minuten fahrrad zu fahren", sage ich.
"ich muss ja auch noch", sagt das objekt.

als wäre das ein stichwort, rappeln wir uns synchron auf und schlurfen richtung garderobe. das objekt hat nur eine mütze abgegeben, die es aufsetzt, bevor es aufs rad steigt.
"dein feigenblatt, oder was", frotzle ich.
"wieso feigenblatt", will das objekt wissen.
"wegen der beginnenden glatze."
"ich hab keine beginnende glatze!"
"dann isses halt ein präventiv-feigenblatt."
"ein präservativ-feigenblatt", dichtet das objekt und wir müssen beide lachen.
dann radeln wir schweigend nebeneinander her. ich will unser gespräch vom sonntag auf keinen fall thematisieren und auch das objekt scheint darauf keine lust zu haben.

als wir durch den kleinen park fahren, sagt das objekt auf einmal:
"warte mal... hast du noch ein bisschen zeit?"
ich stutze.
"warum?"
das objekt schaut richtung spielplatz.
"lass uns mal da reinfahren."
wir steuern richtung sandkasten.
"setz dich mal", sagt es und platziert mich auf einer der schaukeln. dann kniet es sich vor mich und beginnt, mir meine schuhe auszuziehen.
"was solln das?!"
"wir spielen was."
"was spielen wir denn?"
"siehste gleich."

als ich barfuß bin, zieht mich das objekt in richtung einer schmalen mauer, die schätzungsweise anderthalb meter hoch ist.
"willst du da oben sitzen oder was."
"nee. zieh mal deinen mantel an, dein kleid ist zu dünn."
"das ist mir zu warm."
"aber der hat einen festen stoff, das kleid würde vielleicht zerreißen, das ist ja nur ein hauch."
"jetzt sagst du mir erstmal, was du vorhast."
"wir machen ein spiel. ich will, dass du auf die mauer steigst und sie bis zum ende da drüben entlanggehst."
"du spinnst ja wohl, ich bin total betrunken, ich fall da sofort runter."
"ich halte dich fest." das objekt rafft meinen mantel am po zusammen und demonstriert mir, wie es sich die sicherung gedacht hat.

langsam verstehe ich das spiel. es ist ein vertrauenstest. typisch objekt.
"okay", sage ich. "aber du gehst da zuerst lang."
"okay. und ich erwarte nicht mal, dass du mich auffängst."
"hallo?! mit deinem gewicht quetschst du mich platt, wenn du auf mich fällst."

das objekt hangelt sich flink und geschmeidig wie ein kätzchen auf die mauer und schwingt sich in den stand. dann geht es die mauer entlang, langsam, aber mit der instinkhaften sicherheit eines schlafwandlers. als es am ende angekommen ist, dreht es sich auf einem fuß um und kommt den weg wieder zurück. wieder einmal bin ich fasziniert von so viel körperbeherrschung, die sogar noch unter einer volldröhung funktioniert.

"jetzt du."
ich krabbele auf die mauer und komme mir plump und unbeholfen vor wie damals im sportunterricht, als reckturnen angesagt war.
die mauer ist von oben betrachtet erschreckend schmal, nicht mal einen fuß breit.
"keine angst", sagt das objekt. "ich halte dich, wenn du fällst."
als ich endlich überhaupt erstmal stehe, bin ich zittrig, die welt dreht sich leicht und mein magen drückt sauer vom alkohol. das objekt packt mich am mantel.
"hör nicht auf deine instinkte. geh einfach los."
langsam setze ich einen fuß vor den anderen. die ersten drei, vier schritte schwanke ich und spüre, wie das objekt mich fester greift. doch nach einigen metern geht es plötzlich.
"nicht so schnell", sagt das objekt. "konzentrier dich lieber."

wir sind etwa auf der mitte, als mich das objekt loslässt.
"hey, du hast mich losgelassen!" kreische ich und bleibe stehen.
"du brauchst das gar nicht."
"doch, ich brauch das!"
"ich hab die hand gleich hier hinter dir, ich sehe, wenn du schwankst, dann pack ich dich wieder."
"du hast versprochen, dass du mich hälst."
"ich halte dich ja auch, nur nicht mal ganz so fest. und jetzt hör auf zu singen und geh weiter."
ich überlege, ob ich runterspringen soll, doch dann siegt mein stolz. also balanciere ich weiter. als ich am ende bin, hält das objekt beide arme auf.
"und jetzt spring."
ich springe, und das objekt fängt mich.
"gut gemacht", sagt es. "und jetzt kommt phase zwei."

es heißt mich abermals auf die mauer steigen und wartet, bis ich sicher stehe. dann lässt es mich ganz los und eilt ans andere ende.
"wir treffen uns in der mitte", ruft es mir zu.
"ich gehe keinen einzigen schritt, du holst mich hier sofort runter", schreie ich.
"vertrau mir", sagt das objekt, "ich vertrau dir."

die mitte. na komm, das schaffst du, sage ich mir. reiß dich zusammen, gib dir keine blöße.
"nicht an die angst denken", ruft mir das objekt zu, dann macht es die ersten schritte.
und ich mache meine. zweimal gerate ich aus dem gleichgewicht und sehe mich schon fallen, aber ich fange mich wieder, konzentriere mich neu und setze einen fuß vor den anderen. das objekt hat die mitte längst erreicht und streckt mir die hand entgegen. es kommt mir vor wie eine halb ewigkeit, bis ich endlich bei ihm bin.

"du bist schnell", findet das objekt.
"ich bin total unsicher und unsportlich und obendrein blau", sage ich.
"mach dich nur runter", erwidert das objekt. "fakt ist, du hast es geschafft."
"aber viel langsamer als du."
"ich hab das ja auch schon zwei-dreimal gemacht."
"ich würde das auch nach zehnmal nicht so können."
"du hast ja auch nicht acht jahre lang sportlichen drill und hunderte wettkämpfe hinter dir. und verdammt, sei froh drum."

wir sitzen nebeneinander auf der mauer und rauchen eine.
"ist schön hier, oder?"
"als ich noch in eimsbusch gewohnt habe, bin ich hier auch immer durchgefahren. insofern, ein stück nostalgie."
wir schweigen wieder, niemand macht ein geste, nur unsere arme berühren sich.

irgendwann rutscht das objekt von der mauer.
"los komm", sagt es, und zieht mich nach unten in seine arme.
"und haste was mitgenommen?" will es wissen.
"ja, irgendwie schon."
"was hast du gefühlt?"
ich denke nach, nein, geborgenheit war es nicht, das wäre ein zu emotionaler begriff, denn emotional fühle ich mich gar nicht.
"sicherheit", sage ich.
das objekt strahlt.
"das ist gut. das ist sehr gut."

das objekt kniet sich abermals hin und zieht mir meine schuhe wieder an. dann radeln wir weiter.
vor der haustüre des objekts verabschieden wir uns.
"komm gut nachhause", sagt das objekt. "und pass auf dich auf."
"geht klar", sage ich.
dann schwinge ich mich auf mein rad und fahre den berg hinunter bis zur großen kreuzung. erst unten fällt mir auf, dass ich mich anders als sonst nicht noch einmal nach dem objekt umgedreht habe.

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