Sonntag, 24. Februar 2013
sucker
"bitte bitte bitte, nur ein stündchen, ich mag dich so doll und zusammen haben wir immer so viel spaß und du musst da auch niemandem in die fresse hauen, weil ich nur lauter nette leute kenne", jaule ich ins telefon, als die lederjacke anruft, um mir mitzuteilen, dass sie eine mittelohrentzündung hat und deshalb nicht mit in den club gehen kann.
"ach du liebes, ich habe fieber und echt schmerzen... sonst... kennst mich ja, ein paar bier gehen immer", erwidert die lederjacke lachend, wenn auch geschmeichelt. "nur eben heute nicht."
"jetzt weiß ich gar nicht, ob ich heute losziehe, wenn du nicht mitkommst", schmolle ich.
"doch! wehe, wenn nicht!" entrüstet sich die lederjacke. "wenn du schon unglücklich bist, dann vergiss die scheiße wenigstens mal für ein paar stunden und geh tanzen."
"hm", sage ich, total begeistert.
"du kannst ja vorher zu mir kommen. dann musst du später nur noch einmal über die straße."
die idee ist clever, da mich in heftigen depriphasen vor allem öffentliche verkehrsmittel, in denen man fremden spacken nicht entkommen kann, schrecken. wenn ich eine verabredung habe, habe ich allerdings ein wesentlich konkreteres freudiges event vor augen als wenn ich nur in den club gehe und nicht weiß, ob es dort nicht vielleicht richtig scheiße wird. das motiviert mich dann, die gut zwanzigminütige bus- und bahnfahrt doch auf mich zu nehmen.
"okay", sage ich. "ich muss mich nur noch hübsch machen. so in einer stunde, ja?"
"alles klar, ich mach dir schon mal einen tee mit", stellt mir die lederjacke, die eine perverse vorliebe für kamillentee hegt, in aussicht.
"ja, aber bitte earl grey", sage ich.
"sollst du haben. bis gleich!"

als ich bei der lederjacke ankomme, öffnet sie mir in trainingsanzug und mit verwuschelten haaren die türe. so kenne ich die lederjacke, die sonst sehr eitel und etepetete ist sowie laut eigener aussage an einem duschzwang leidet, gar nicht.
"du siehst toll aus", sagt sie zu mir, als ich aus meiner jacke schlüpfe, und zupft an meiner weinroten neuen bluse.
"du nicht", sage ich ehrlich und lache.
die lederjacke zeigt mir den stinkefinger und droht mit einer runde kamillentee.

dann sitzen wir bei der lederjacke im bett, kuscheln und zappen durchs fernsehprogramm.
"was ist denn nun eigentlich los bei dir? du sagtest, du warst diese woche krank?" fragt mich die lederjacke.
"hm", sage ich.
"willst du drüber reden?"
"naja, gibt nicht viel zu sagen. das war so wie in der zeit kurz bevor die depression akut war: tagsüber traurig, nachts angst und schlafproleme. nur diesmal ohne echte schlaflosigkeit, weil die medikamente ja so viel energie schlauchen. trotzdem hab ich viel zu wenig schlaf abbekommen und habe entsprechend mein serotonindefizit noch mal verschlimmert. letzte nacht hab ich erstmals wieder gut geschlafen, 13 stunden lang."
"und sonst?"
"naja, zu viel getrunken hab ich und mir spannende tablettencocktails reingezogen."
"mann!" die lederjacke schlägt mit der faust auf die bettdecke und ich zucke zusammen.
"tschuldigung", sagt die lederjacke, "aber das macht mich so wütend... das ist so scheiße... aber ich weiß ja nicht, wie man das abstellt."
"reg dich ab. ich werde nicht alt so, das ist mir schon klar."
die lederjacke guckt betroffen, sagt nichts und nimmt mich in den arm. dann verkündet sie:
"so! nun aber zum hauptteil des abends... vergnügen und zerstreuung!"
die lederjacke lässt zigaretten, kekse, chips und gummibärchen auf mich niederregnen und schmeißt anschließend einen lustigen film in den dvd-player.

als ich gegen eins von der lederjacke in den club wechsle, ist mir durch und durch warm. das ändert sich schlagartig, als ich den eingang passiere und mit den menschenmengen konfrontiert bin. ich drücke mich eine weile an der garderobe herum und versuche mir einzureden, dass ich gut aussehe und niemand bemerken wird, dass ich in wirklichkeit ein alien bin. ich atme tief ein, dann geht es rein und richtung bar. erstmal ein mädchenbier, so anstatt schnuller. und eine zippe zum festhalten in der anderen hand. na bitte. geht doch.

ich drehe zwei runden und mir begegnen einige bekannte gesichter in der menge. ich lasse mich umarmen, merke, wie das gefühl von fremdartigkeit und anspannung etwas nachlässt. ganz hinten in einer ecke dann entdecke ich das objekt, das sehr in sich gekehrt wirkend eine zigarette dreht. es hat nur einen stehplatz, kann den tabak nirgends ablegen und dreht daher mit einer hand. das ergebnis ist entsprechend krüppelig. das objekt zupft eine weile am papier und versucht den filter noch gerade zu richten, entschließt sich dann aber, dass nicht mehr viel zu retten ist und sucht nach feuer in seinen hosentaschen.

ich schleiche mich an und haue ihm auf den hintern:
"die hätte ja sogar ich besser hingekriegt", sage ich.
"morphine", nuschelt das objekt und will mich umarmen, wobei ihm die krüppelkippe aus dem mund fällt und von vorbeilatschenden füßen zertreten wird.
das objekt guckt bedröppelt.
"das war doch eh nichts richtiges", sage ich.
"nee, hast recht, war nichts richtiges... also diese umarmung, mein ich", lächelt das objekt und nimmt mich noch mal in die arme, drückt mich, bis mir die luft wegbleibt und begrabbelt dann meinen po.
dann versucht es, noch mal eine zigarette zu drehen.
"wirds denn gehen", kommentiere ich das gefummel.
das objekt lässt sich nicht ablenken.
"ich helfe ihnen nachher auch gerne über die straße", biete ich an.
das objekt presst den tabak an seine brust, um eine hand frei zu haben für den stinkefinger, den es mir zeigt. das ist schon der zweite des abends, zähle ich mit, entsprechend muss ich heute doch ganz cool rüberkommen.
"ich erinnere dich an neulich, als du den reißverschluss nicht mehr aufbekommen hast und ich dich aus deiner jacke befreien musste", kontert das objekt. "da wollte ich dir schon anbieten, dass du auch mutti zu mir sagen kannst."
"okay, mutti", erwidere ich und gebe dem objekt einen kuss.

das objekt hat die zigarette endlich fertig, legt den arm um mich und fragt:
"und, wie ist der abend heute für dich?"
"hm, weiß noch nicht."
"doch, das weißt du. eigentlich ist es ein guter abend."
"warum?"
"na guck dir mal die leute an..." das objekt schielt in richtung einer aufgeregt umherwatschelnden frau, die kurzhaarschnitt, eine strenge brille und eine komische handtasche trägt.
"allein wegen der handtasche kann ich dir genau sagen: gebärmaschine."
"naja, das ist eben eine, die sonst nie da ist und für die das hier wahrscheinlich sowas wie der tempel der verheißung ist..."
"das ist so der typ frau, die sucht einfach nur einen, der ihr ein kind macht... heute ist sie hier, nippt an ihrem stillen wasser und tanzt in ihren biederen klamotten wie ein pinguin und morgen erzählt sie dann ihren kolleginnen, boah, am samstag, da hab ich so richtig einen drauf gemacht."
wir kichern beide.
"wir sind fies", sage ich.
"na und", grinst das objekt. "macht doch spaß. über uns tratschen die leute sicher auch. die sagen, da stehen der hippie und die psychotante, die haben sich gesucht und gefunden. da ist das nur fair."

wir stehen herum und nuckeln an den bierflaschen. das objekt hat noch immer den arm um mich gelegt.
"achtung, achtung", stupst mich es mich dann an. "samenspender auf halb acht!"
ich gucke in die beschriebene richtung und sehe einen noch recht jungen typ, format bubi in turnschuhen, der sich der handtaschentussi nähert.
"ooooh... komm", wispert das objekt. "nimm ihn, nimm ihn... der arbeitet bestimmt in ner sparkasse und fährt nen vw kombi und zuhause hat er nen bausparvertrag und ne briefmarkensammlung, die er seit seinem zwölften lebensjahr vergrößert."
ich muss kichern und beobachte, wie die handtaschentussi den bauspartyp ziemlich herablassend abblitzen lässt.
"au, junge, das war schlechte recherche", kommentiert das objekt das geschehen. "die frau ist ein haifisch, da musste anders ran. da musste früher mit dem bausparvertrag wedeln, damit die gleich weiß, das kinderzimmer ist sicher."
ich verschlucke mich vor lachen an meinem bier.
"verstehst du, was ich dir sagen will?" fragt das objekt. "im vergleich zu solchen menschen sind wir so unendlich frei."
"das schon", erwidere ich. "hat aber auch nachteile. wir werden nie wertvolle mitglieder dieser gesellschaft."
"wenn du mal ehrlich bist, willst du das doch gar nicht. und irgendwann wird dich das auch überhaupt nicht mehr interessieren", verspricht mir das objekt. "du bist ne coole frau, du hast unheimlich viel auf dem kasten. du wirst sie alle in die tasche stecken, wenn du dir nur treu bleibst."

das klingt so fest und herzlich und überzeugt, dass ich mich für einen moment vollkommen happy und merkwürdig zweisam fühle. ich habe das bedürfnis, mich richtig anzukuscheln, weiß aber nicht, wie ich das kommunizieren soll und ob das dem objekt dann nicht zu viel wird. also fummele ich unsicher an seinen haaren und kommentiere den schiefen pferdeschwanz, bis das objekt mich offen anschaut, lächelt und dann sagt:
"los, komm her, das willst du doch."
es zieht mich zu sich heran, legt meinen kopf an seiner brust ab, hält mich fest und streichelt sachte meine haare, wangen und nacken. der barkeeper kommt vorbei und macht einen spruch, aber das objekt ignoriert das einfach und streichelt mich weiter.
"schmusekatze", sagt es.
"du musst sagen, wenn dir das zu viel wird, ja?"
das objekt lächelt nur, schüttelt den kopf und wiegt mich beruhigend wie ein kind. ich kann sein herz schlagen fühlen und stelle mich vor, wie dieses herz mein eigenes defibrillieren könnte. liebe ist ein energiespender. man könnte umarmungen verkaufen wie isotonische getränke. interessant, dass es dafür noch keinen markt gibt.

nach einer unendlichkeit lockert das objekt den griff ein wenig, streicht mir die haare aus dem gesicht und fragt leise:
"wie fühlst du dich?"
"das war schön", flüstere ich.
"du bist wie ein trockener schwamm, du brauchst so viel liebe", findet das objekt.
"ich will dich nicht nerven", sage ich. "ich weiß, ich bin zu viel, kein mensch kann das aushalten."
"du siehst das falsch", korrigiert mich das objekt. "was meinst du denn, dass mir das gerade nicht auch etwas gegeben hat?"
ich gucke groß.
"das war doch wunderbar symbiotisch", fährt das objekt fort. "ich hab deinen herzschlag gespürt, das war großartig."
ich weiß nicht, wohin ich gucken soll, nehme den letzten schluck bier aus meiner flasche und flüchte erstmal auf die tanzfläche.
nach einer weile tanzt das objekt neben mir, macht faxen und berührt mich dann und wann, um den zauberfaden, den es gesponnen hat, nicht reißen zu lassen. gegen halb fünf beschließt es, dass ich genug vom abend hatte und besser nach hause sollte, um eine ordentliche mütze schlaf zu bekommen.

draußen stürmt und schneit es. ich werde auf der fahrradstange bis zur bushaltestelle gefahren. dort verabschiedet sich das objekt umständlich und radelt durch den schnee davon.

ich stehe an der haltestelle, spüre die schneeflocken auf meinem gesicht schmelzen und merke, dass ich wirklich da bin, dass ich lebe und dass meine seele nicht wie sonst ein expandierendes vakuum ist. ich denke an das objekt und die lederjacke und die wärme steigt wieder in mir auf, weil es schön ist, dass es diese menschen in meinem leben gibt. diese und noch zwei oder drei andere.