Freitag, 28. Dezember 2012
vaters tochter
als ich gestern mittag ins wohnzimmer tappe, schlaftrunken, kreislaufschwach und blass, sitzt da nur mein vater.
"du schläfst aber lang", sagt er. "du warst doch gar nicht aus. sonst bist du doch immer aktiv und unterwegs."
"ich kriege eine erkältung, glaub ich", erläutere ich meine psychopharmakabedingte schläfrigkeit.

ich hole mir eine decke, kuschle mich ein und vergesse für einen moment, dass ich erwachsen bin und für meinen vater die schreckliche sozialversagerin.
"ich hab dir was aufgenommen", sagt mein vater dann und meint ein video.
ich tippe auf eine dokumentation über irgendwelche kirchenhistorischen angelegenheiten, weil wir beide sowas ganz gerne gucken, werde dann aber vollkommen überrascht, als es ein konzertmitschnitt eines auftritts von depeche mode ist.
"woher weißt du, dass ich sowas mag?" frage ich ganz perplex.
"du hast mir mal so ein lied aufgenommen von denen."
aufgenommen heißt, ich habe es auf eine cd gebrannt. mein vater spricht immer noch von "aufnehmen", weil er aus der generation des tonbands stammt. mit dem tonbandgerät verbrachte er in meiner kindheit ganze wochenenden am radio, um die aktuelle hitparade mitzuschneiden.

als ich mich daran erinnere, ist mir klar, warum ich wochenenden mit youtube verbringe und alleine oder gemeinsam mit dem objekt oder anderen musikversessenen konzertmitschnitte oder bestimmte songs suche. ich bin die tochter meines vaters und ihm ähnlich.

"oh, guck mal, das ist von anton corbijn!" rufe ich entzückt, als das konzert beginnt.
"wer ist das denn?"
"der regisseur von control!" sage ich und vergesse dabei, dass mein vater joy division vermutlich nicht kennt.
er sagt nichts und guckt nur.

ich kann nach wenigen takten die titel der meisten songs vorhersagen, und mein vater ist beeindruckt.
"woher weißt du das alles?"
"ich hab ganz viel von denen!"
"wieder aus dem internet? irgendwann erwischen die dich mal mit deinen illegalen aktivitäten!"
"nein, nein, ich habe cds von denen. vier oder fünf. die hab ich schon, seit ich 15 oder 16 bin."
"da hast du ja noch hier gewohnt."
"ja."
"das hab ich gar nicht mitgekriegt."
ich danke still der erfindung der kopfhörer, die unter anderem verhindert haben, dass meine eltern mit meiner vorliebe für punkmusik belästigt wurden. nur die äußerlichen veränderungen - bunte haare, nasenstecker, abgeranzte klamotten - ließen damals darauf schließen, dass ich mich irgendwie in der pubertät befand.

"was ist das für eine musikrichtung?" will mein vater wissen.
"synthiepop."
"hm."
wir lauschen noch ein lied.
"das klingt alles gleich", findet mein vater.
"das ist ja auch dieselbe band. die haben natürlich ihren style. das macht einen künstler unverwechselbar."
"das macht immer so dumdumdum im hintergrund", merkt mein vater an.
"das ist der bass."
"hm", hmt meint vater abermals. "ich hab es ja lieber rockiger."
"ich höre inzwischen sogar ganz viel elektro."
"da bei denen ist auch einer mit einem keyboard dabei, das ist ja dann auch elektrisch."
"ja, aber das ist synthiepop, das kommt vom einsatz der synthesizer, mit elektro meine ich eher sowas wie... techno."
"gehst du etwa auch auf solche technoparties, wo sie alle ecstasy nehmen?!"
"ständig. deswegen bin ich auch dauernd pleite."
mein vater glaubt mir das ganz offensichtlich, bis ich laut lache. in den augen meiner eltern ist hamburg eine art sündenpfuhl, den der teufel persönlich angelegt hat.

obwohl sich mein vater sichtbar langweilt, guckt er das ganze konzert mit mir, wahrscheinlich, weil ich ihm dabei die halbe depeche mode-biografie erzähle. erst nach dem letzten song geht er in die küche, weil es drei uhr nachmittags ist und er gucken will, ob meine mutter schon in die gänge kommt, um die kaffeetrinkzeit um halb vier einhalten zu können.

ich sitze noch eine weile still im zimmer und fühle mich seltsam berührt.