Dienstag, 4. Dezember 2012
business as usual
montag, kurz vor 11 uhr, psychiatrie. mein ambulanter therapeut hat in meinen augen auf ganzer linie versagt, als er meinen zustand (dauerflennend) einfach auf angeblichen schlafmangel schob.
"aber ich hatte gottverdammte acht stunden schlaf!" heule ich.
"sie brauchen aber eher neun bis zehn" hält der therapeut dagegen.
"DAS NÜTZT MIR JETZT AUCH NICHTS", kreische ich zurück. "machen sie, dass das aufhört."
"dann gehen sie in die klinik. jetzt gleich."
na toll.

nach einer kleinen, selbstverabreichten extradosis notfallmittelchen, die mich artig in die psychiatrische notaufnahme spazieren lassen, stehe ich vor dem kleinen glaskabuff der anmeldung. dahinter sitzt eine blonde ältere frau, die mich schon kennt. sie lächelt freundlich und sagt dann mit ihrer beruhigenden singsangstimme, dass leider noch drei psychos vor mir dran sind.

das klingt für den ottonormalpatienten nicht weiter schlimm, aber psychiatrieerfahrene wissen sofort: rund drei stunden wartezeit. weil psycho-patienten nunmal mehr zeit brauchen. bis der arzt genau raushat, was ihnen fehlt. und bis die psychos die rasierklingen oder die 100 schlaftabletten oder drogen oder weißdergeierwas rausrücken.
ich hasse psychopatienten, das muss ich nicht sagen. aber ich bin ja selber eine, chemisch ruhiggestellt zudem, also bin ich höflich und artig, sage danke und bitte und setze mich dann erstmal auf meinen platz. ich erinnere mich, dass ich beim zweiten mal auch fünfeinhalb stunden wartezeit prima mit angsthaben und versuchen, nicht in tränen auszubrechen weil peinlich rumbekommen hab, und beschließe, mich zusammenzureißen.

ich höre leise musik. ab und an gehe ich nach draußen, um eine zu rauchen oder einmal in slowmotion um den block zu watscheln. arschkalt ist es, oder vielleicht ist mir auch nur so kalt, weil mich das weinen müde gemacht hat. dank slomotion-medis kann ich jetzt nur noch dröge starren, und das ist vielleicht ganz gut so.

gleich nebenan ist der komplex, in dem das objekt arbeitet. sein fahrrad steht davor, mit ikea-tüte auf dem gepäckträger, also weiß ich, das objekt war mal wieder heimlich in der klinik waschen, mangels eigener waschmaschine und weil es gottverdammmich zu stolz ist, mal den mund aufzumachen und zu fragen, ob es wäsche vorbeibringen darf.

13:30 uhr. es sind immer noch zwei patienten vor mir. ich stehe draußen mit den rauchern und zähle von 100 bis null meinen persönlichen countdown zum lungenkrebs. der vorteil an krebs ist, dass man weiß, das kriegt man in den griff oder eben nicht. es gibt eine begrenzte anzahl an möglichkeiten, und nach der letzten ist sense. bei psychogeschichten bleibt das offen, ein leben lang. es wird fein herumgedoktert, und eigentlich weiß keiner so recht, was er mit dir anstellen soll. der eine arzt gibt das zu und lässt dich irgendwann machen. der andere hat seinen fünf-punkte-plan und droht danach mit einweisung.

14:00 uhr. das objekt stürmt aus dem gebäude, holt schnell seine ikeatüte und kommt minuten später wieder schwer bepackt heraus. ich gehe ihm ein stückchen entgegen.
"morphine, was machst du denn hier?!" das objekt ist so verblüfft wie beunruhigt.
"wochenende war mies."
"du, ich muss schnell nach hause..."
"die wäsche."
"ja, und mein lütter hat schule aus, den muss ich gleich holen."
"dann mach."
"ich ruf dich nachher an, ja? ich wollte dich heute sowieso anrufen."
"jaja." ich winke ab und das objekt hetzt weiter. ich weiß, es ist seit fünf uhr morgens auf den beinen und saumüde, aber es hat noch viele stunden vor sich. als es mit dem rad an mir vorbeifährt, reckt es den daumen nach oben. hoffnung, heißt das. ich soll die hoffnung nicht verlieren.

14:30 uhr. ich frage höflich, wie lange es noch dauert.
die blonde frau von der anmeldung geht fragen, kommt dann wieder und guckt mitleidig.
"schwer zu sagen... die ärztin ist gerade weg, jetzt kommt noch ein durchgangsarzt..."
"komme ich dann heute noch dran?"
"jaja, das kriegen wir schon hin", ist die dame zuversichtlich. dann meint sie: "fahren sie doch noch nach hause, sie haben doch nicht weit. dann rufe ich sie nachher an und dann kommen sie wieder her, okay?"

ich bin dankbar, dass ich kurz nach hause darf und dann auch gleich wieder nicht mehr, denn zuhause lassen sich die ultraschwarzen gedanken gar nicht mehr abblocken. nach kurzer zeit bin ich wieder am heulen. dann bekomme ich den anruf, dass ich heute nur noch über die zentrale notaufnahme behandelt werden kann oder bis morgen warten soll. was die dame nicht weiß, ist, dass ich morgen wieder eine freundliche, kompetente und rundherum aufmerksame humane ressource sein muss, die nur deshalb am leben ist, um ihren job auszuführen. für mich gibt es kein morgen.

ich rufe beim objekt an, weil ich nicht weiß, was ich tun soll. andererseits weiß ich ziemlich genau: ich will nicht noch stunden in der zentralen rumsitzen und warten, ob mir noch jemand schnell fünf minuten schenkt, bis er zum nächsten unfallopfer gerufen wird. zentrale bringt nur etwas, wenn eine aufnahme stattfinden soll, und das kommt mir irgendwie nicht in den sinn.

das objekt ist offenbar beschäftigt, ruft erst um neun uhr abends zurück, während ich noch immer hemmungslos am heulen bin. als ich rangehe, habe ich schluckauf und kopfweh und kriege keinen vollständigen satz heraus, und ich spüre sofort, dass das objekt sich riesige sorgen macht, obwohl es sich um ruhe bemüht.
"lass dir zeit", sagt es ungefähr fünfmal, aber ich weiß, dass es die zeit gerade selber braucht, um nachzudenken, was es jetzt sagt und weil es weiß, dass mich der falsche satz zum fäkalsprachlichen ausrasten oder zur totalen selbstaufgabe bringen kann. also versucht es, mich erstmal erzählen zu lassen, sagt dann, dass es für mich da ist und mich lieb hat und dass ich ihm alles sagen kann und keine angst haben brauche.

ich habe das gefühl, nur unzusammenhängenden hochdramatischen scheiß zu blubbern, aber das objekt bekommt schnell ein gefühl für meine gesamtverfassung. dann ist ganz geradeheraus und meint, es gäbe zwei möglichkeiten. entweder es würde jetzt den notruf wählen und mich wegen suizidgefahr einweisen lassen oder ich könne hier und jetzt vor ihm eine art antiselbstmordabkommen für die nacht schließen und dann sehen, wie es mir bis zum nächsten morgen geht. ich bekomme eine halbe stunde bedenkzeit, dann muss ich mich zurückmelden.

"ich will nicht in die klinik", bin ich mir kurz darauf ganz sicher.
da plant das objekt mit mir minütiös die zeit, bis ich schlafen gehe und was ich machen soll, falls ich nicht schlafen kann oder schlecht träume. ich entschuldige mich währenddessen ungefähr 500 mal dafür, dass ich so schrecklich bin, aber das objekt sagt noch mal, dass es mich lieb hat und ich mir keine gedanken machen soll. es verspricht, das handy anzulassen und dass ich anrufen darf, wenn es nicht mehr geht, dann würde es mich holen.

als ich den hörer aus der hand lege, fühle ich mich gefasst. ich erledige brav die objektaufgaben - essen, duschen, zähneputzen, eine viertelstunde etwas lesen bei kerzenschein und musik - und falle schließlich ins bett. ich schlafe sofort ein und träume etwas wunderbares, sodass ich ganz verzaubert aufwache und denke, wow. dann fällt mir das objekt ein und ich denke noch mal: wow.

draußen regnet es wie schon sechs wochen zuvor. aber es ist ein neuer tag, immerhin. deutlich spürbar. ich tippe dem objekt eine sehr liebe sms und bedanke mich für den notfalleinsatz. ich weiß, dass es in dieser nacht sicherlich sehr viel weniger geschlafen hat als ich.