Dienstag, 6. November 2012
träumen
als wäre nichts gewesen, nimmt das objekt die alte betreuerrolle wieder ein, schenkt mir zeit, aufmerksamkeit und analysiert die dinge mit großer geduld. ich schreibe es dem dritten, der erstaunt ist und beruhigt:
"ich finde das gut, dass ihr euch wieder versteht. das ist mir wichtig, wenn ich nicht mehr da bin."

ich habe eine gute phase. ich habe endgültig entschieden, meinen job zu kündigen. das objekt bremst mich, es sofort zu tun.
"lass dir zeit, du brauchst erstmal sicherheit!"
da es seine patienten auch in der übergangsphase betreut und unter anderen für deren lebensplanung zuständig ist, überredet es mich, mit ihm und seiner gruppe zum arbeitsamt zu gehen.
"ich wüsste gern mal, für was du alles so der typ bist. wir stöbern einfach mal, okay? ich könnte mir dich für vieles vorstellen... du wärst sicher eine tolle chefsekretärin... oder könntest was mit tieren machen, du bist doch so tierlieb... du könntest fast alles machen, denke ich, wichtig ist nur, dass du dich entfalten kannst mit deinen tausend ideen und deiner speziellen art, den dingen bis zum letzten auf den grund zu gehen."

das objekt denkt selbst darüber nach, sich beruflich zu verändern. im gegensatz zu mir hat es leider keine chancen, sich großartig weiterzuentwickeln. der neuste plan lautet, eine umschulung zu machen und kranführer am hafen zu werden.
"toll, container stapeln", sage ich mit maximaler begeisterung in der stimme.
"du, das ist ein echt verantwortungsvoller job", hält das objekt dagegen. "und besser bezahlt als mein jetziger."
"jaja, und dann sitzt du da in deinem kran, in der einen hand freund smirnoff, in der andere hand ne tüte, und dann erschlägst du mit deinem container fünf arme hafenarbeiter."
"meinst du, die machen drogentests", fragt das objekt.
"könnte ich mir schon vorstellen."
"das muss ich dringend rausfinden", meint das objekt, während ich einen lachanfall bekomme.

manchmal ist das objekt ein kleiner träumer. da nehmen wir einander nichts. aber träume machen stark.

meine machen mich so stark, dass ich meine psychopharmaka abgesetzt habe. ich erhalte warnungen von allen seiten. auch das objekt ist dagegen und erklärt mir mit einer engelsgeduld, warum es völlig unbedenklich ist, das zeug ein jahr oder auch länger zu nehmen.
"jetzt hast du noch den spiegel, aber in zwei wochen gehst du krachen."
ganz unrecht wird es mit der prophezeihung nicht haben. ich habe eine schlaflose nacht nach der anderen. am nächsten tag fühle ich mich hyperaktiv und explodiere bei jeder kleinigkeit. dem azubi gefällt das, weil ich auch der chefetage ständig ungefragt meine meinung an den kopf knalle. das hat konsequenzen. man nimmt mich plötzlich ernst, offeriert mir mein lieblingssushi und eventuelle neue perspektiven. ich finde die kurzfristig gut, weiß aber, dass mich mein weg unweigerlich aus den agenturen wegführen wird und muss.

ich bin klar. ich fühle mich zum ersten mal seit langem wieder wie ein freier, selbstbestimmter mensch und kann meinen job wieder das sehen, was er ist: ein job. kein schicksal. kein lebensglück. nichts essenzielles. sondern etwas vollkommen austauschbares.