Samstag, 25. August 2012
nachtschicht
als ich gestern sehr spät aus dem büro komme, so spät, dass der feierabendverkehr schon durch ist und die leute wieder in die stadt drängen, um zu feiern, erreicht mich eine sms der krankenschwester. die krankenschwester ist eine neue freundin von mir, eine frau, die ich ursprünglich mal für mr. shyguy hatte abschleppen wollen, was aber irgendwie schiefging und achichweißauchnichtmehr.

die krankenschwester hat heute und morgen frei, ihren sohn ausquartiert und will mich zum saufen überreden. da ich sowieso in freizeitkluft auf arbeit war - schwarzer rock, schwarzes kitty-thinks-you-are-an-asshole-punker-t-shirt - mache ich stante pede kehrt und fahre richtung schanze. in der bahn überlege ich, ob das mit dem saufen sinn macht, aber ich habe noch nicht so viele psychopillen intus, dass alkohol zwangläufig zum totalen knockout führen würde.

in meiner stammkneipe freut sich der barkeeper, mich endlich mal wieder zu sehen und gibt uns gleich zwei caipis aus. die krankenschwester sieht scharf aus wie immer und nuckelt, ich glaube, sie kann sie anders, aufreizend an ihrem strohhalm. dann erzählt sie mir von ihrem horror-unfall vor zwei wochen, als sie besoffen vom fahrrad gefallen war.
"schleudertrauma, gehirnerschütterung und kapselriss in der schulter", berichtet sie ein bisschen stolz und ein bisschen zerknirscht.
"autsch", sage ich. "ich bin auch letzten winter mit dem rad auf dem eis gestürzt und hatte ne gehirnerschütterung. die hab ich aber zu spät bemerkt. das hat vier wochen oder so gedauert, bis die kopfschmerzen und diese merkwürdige müdigkeit mal weg waren."
"ja, scheiße", sagt die krankenschwester.

wir trinken noch einen caipi, dann fragt mich die krankenschwester, ob ich was zum ziehen hab. da ich das zeug noch immer gewohnheitsmäßig-blauäugig in der arbeitstasche mit mir rumtrage, kann ich ihr aushelfen.
als sie vom klo wiederkommt, hat sie einen kleinen laberflash und lästert erst über ihren paranoiden freund, dann über die neue stationsleitung.
"wie lange machst du das eigentlich schon?" frage ich und meine ihren job.
"16 jahre", sagt die krankenschwester.
"boah", sage ich, "ich hätte ja ständig angst, dass ich jemanden aus versehen umbringe."
"naja, auf der intensivstation ist das recht einfach", kichert die krankenschwester.
"eine bekannte von mir, die auch wegen depressionen in behandlung ist, war kinderkrankenschwester auf der krebsstation", erzähle ich. "die hat echt die macke gekriegt, weil immer die lütten gestorben sind."
"bei mir sterben meistens nur alte leute", zuckt die krankenschwester lapidar die achseln. "und ich mein, die sterben ja sowieso. ob jetzt bei mir im krankenhaus oder zuhause in der wohnung. ob jetzt fünf jahre früher wegen krebs oder fünf jahre später zuhause beim kacken an einer hirnblutung."
"skol", sage ich und proste ihr zu mit dem neuen caipi, den mein barkeeper, der unser gespräch grinsend verfolgt hat, uns über den tresen schiebt.

gegen eins kriege ich das große gähnen und die krankenschwester den zappeldrang.
"da ist noch eine party auf dem kiez", sage ich, während der alkohol schwer in meinem kopf kreist.
die krankenschwester reißt mich vom barhocker und schleppt mich dann über den pferdemarkt durch halb st. pauli bis zum club.
"ich glaube, ich werde nicht alt", sage ich und meine den abend.
"sagte die frau mit dem pep in der tasche", lacht die krankenschwester.
"ich weiß nicht, ob das so gut wäre", wende ich ein. "ich habe neulich erst den totalen systemabsturz produziert."
"heute bist du ja unter ärztlicher aufsicht, sozusagen", beruhigt mich die krankenschwester.

ziehen will ich nicht, also lege ich mir eine homöopathische dosis auf die zunge, oral kommt softer und langsamer, das gilt für drogen wie für einen guten blowjob. zehn minuten später ist mir ordentlich schwummrig, dann bekommt das herz die überhand über den absaufen wollenden kreislauf und es geht mir wieder gut.
wir entern den club und gehen tanzen und schwitzen. ich lande jetzt bei cola und wasser und irgendwann schnell in den sesseln.

plötzlich steht der paranoide freund der krankenschwester vor mir und beschuldigt uns, wir seien gar nicht zusammen trinken gewesen. der paranoide freund ist schwer gestört, also ich mache ich das, was ich auch mit durchdrehenden patienten in der notaufnahme der psychiatrie schon fabriziert habe: themawechsel.
fünf minuten später sind wir beim thema beruf, der paranoide freund entpuppt sich als designer für computerspiele und spricht mit großer leidenschaft von seiner kreativarbeit und dem neuen genialen illustrator, den er gerade eingestellt hat. als ich berichte, dass ich schreibe, ist er ganz angetan. kreative unter sich.

so findet uns die krankenschwester. als sie zu uns stößt, ist die situation wieder entschärft und der paranoide freund nicht mehr so paranoid. stattdessen beichtet er mir, dass er der krankenschwester manchmal einfach nicht glaube und angst habe, dass sie fremdgeht. wie ich die krankenschwester kenne, ist die sorge nicht ganz unberechtigt, allerdings weiß ich von ihr, dass auch der paranoide spieledesigner kein kind von traurigkeit ist.

da psychopharmaka und alkohol die halbwertszeit von pep offenbar drastisch verkürzen, bin ich gegen viertel nach drei tatsächlich am ende meiner kräfte und kann kaum mehr sprechen vor erschöpfung. ich will zum bus, während sich die krankenschwester sorgen macht und möchte, dass ich ein taxi nehme.
"bist du auf, ich hatte gerade meine steuernachzahlung", wehre ich mich.
die krankenschwester will mir geld leihen, aber ich sehne mich nach frischer luft und bin überzeugt, dass mir der spaziergang zur haltestelle nur gut tun würde.

ich setze mich durch und wanke zum bus. ich spüre meine füße. ich spüre hunger. an einem kiosk kaufe ich mir noch ein wasser, schokolade, gummibärchen und zigaretten. dann sehe ich schon den bus herannahen und spute mich.

im bus lasse ich mich neben einen jungen asiaten fallen, der geschlafen hatte, aufwacht und mich erschreckt anschaut. dann lächelt er über mein t-shirt und macht eine geste, dass es ihm gefalle. zwei minuten später nickt er wieder ein und rutscht gegen mich. ich tippe ihn an, er macht die augen wieder auf und sagt sorry. dann funkt mir der sandmann dazwischen und der junge asiate muss mich in einer kurve von seinem schoß pflücken. wir müssen lachen. ich schaue ihn an, er sieht wirklich gut aus, obwohl ich nicht auf asiaten stehe. er ist groß und kräftig gebaut, hat ein unglaublich gleichmäßiges, glattes gesicht und trägt eine riesige brille, die ihn sehr intellektuell wirken lässt. ich schätze sein alter auf mitte 20.
als ich in winterhude aussteige, sagt er etwas freundliches in einer fremden sprache. ich lege ihm kurz die hand auf die wange, dann springe ich die kühle nacht und ziehe meiner wege.