Donnerstag, 9. August 2012
totally bright
"das ist selbstverletzendes verhalten. das ist... das ist schon sowas wie von der brücke springen", sagt die objektstimme vorwurfsvoll-besorgt in mein ohr.
"es tut mir leid", sage ich.
doch die anspannung, die sich über den tag in eine art unerträgliche unruhe gesteigert hatte, hatte sich mit meinen daily psychopharmaka diesmal einfach nicht recht lindern lassen. also schluckte ich hübsch meine notfallration benzodiazepine und gegen abend schließlich, als ich schon ahnte, dass ich aller chemie zum trotz nicht schlafen können würde, kam unvernünftigerweise der wodka dazu. das passierte ganz automatisch, irgendwie halbbewusst, so, als wäre ich nicht ganz ich selbst gewesen.

in hinblick auf den ersten effekt kann man die kombi durchaus als empfehlenswert beschreiben. sie killt alle ängste und gefühle. der kopf schwebt knapp unter der zimmerdecke und der körper ist angenehm schwer. in hinblick auf nebenwirkungen, die dann beispielsweise beim sprechen, denken oder bei bewegungsabläufen noch bis 24 stunden später auftreten, muss allerdings vor einer solchen mische dringend gewarnt werden.

der objekt-anruf jedenfalls kam genau zum falschen zeitpunkt. und dennoch auch zum genau richtigen.

am telefon lalle ich. ich denke zunächst, das kommt vom liegen, weil ich alkoholschwanger im bett lümmle. doch im sitzen ist es auch nicht besser. das objekt, selbst erfahren genug, checkt sofort, was los ist.

"steh auf", befiehlt es mir, als ich gebeichtet habe.
"müde!" wehre ich mich.
"steh sofort auf und geh duschen!"
ich sage nichts. denke, das ist ja voll bescheuert. jetzt, wo endlich alle schrecklichen gefühle mal tot sind.
"du darfst jetzt nicht einschlafen", redet das objekt auf mich ein.
"wasn dann", entgegne ich. "sterbe ich dann?"
"nee. aber dann wirst du morgen nicht arbeiten können, weil du das down deines lebens hast", erklärt das objekt.

ich überlege. sterben wäre für diesen moment theoretisch okay gewesen, aber nicht arbeiten, das geht natürlich nicht.
"hmhmnn" murmle ich und drehe mich schon mal auf die andere seite. so ein kissenrascheln klingt doch hoffentlich kooperativ. nicht, dass mich das objekt jetzt einweisen will.

"steh auf", wiederholt das objekt, das mich zu durchschauen scheint. "und wehe, du drückst mich jetzt weg. ich ruf in der klinik an."
"hör auf", bettle ich, "ich bin doch froh, wenn ich endlich mal pennen kann!"
"sich wegmachen hat mit schlafen nichts zu tun", kritisiert das objekt.
ich, schlaflos und mit irrer angst vor der angst, sehe das natürlich anders.

"okay, ich sitze", berichte ich, als meine beine über die bettkante baumeln.
sitzen fühlt sich dann aber an, als würde mein kreislauf gleich kollabieren. nicht gut.
"es tut mir so leid, du hasst mich jetzt bestimmt", sage ich zusammenhanglos.
"oh mann", sagt das objekt und es klingt noch genervter als ich befürchtet hatte.

ich halte die klappe und wünsche mir tränen. weinen bewirkt häufig, dass mitmenschen nicht so sauer sind wie sie eigentlich sein wollen.
doch da sagt das objekt noch mal "oh mann", aber jetzt klingt es gottseidank schon sanfter und eher verzweifelt und ein bisschen hilflos. dann sagt es:
"ich weiß auch nicht mehr, wie ich dir helfen soll. du psychiatrisierst. deine seele löst sich auf, wenn du sowas machst, kapierst du?"

das tut mir so leid, dass ich dann doch kurz den tränen nahe bin. für wen, frage ich mich, tut mir das eigentlich leid, für mich oder für das objekt, doch dann ist der gedanke schon wieder weg. ich schnüffe ein bisschen, aber die augen sind schon wieder so trocken wie altes feuerholz.

"okay, wir machen jetzt einen plan", fasst sich das objekt. "du stehst auf und gehst duschen. und dann isst du was. auch wenn es nur was kleines ist."
beim gedanken ans essen dreht sich mir der magen um, aber ich sage erstmal "hm", nicht dass das objekt denkt, ich rolle mich gleich wieder ein und penne.
"und dann?" frage ich, weil ich mir gerade nicht vorstellen kann, wozu wach sein gut sein könnte.
"dann gehst du kurz raus. einmal frische luft. du wirst es nicht weit schaffen, aber vielleicht einmal bis zu den mülltonnen in der grünanlage vor deinem haus. das reicht auch, denn auf der straße ist es für dich so eigentlich zu gefährlich."
"hm", sage ich, total begeistert.
"und dann rufst du mich noch mal an", ergänzt das objekt.
"okay."
"versuch einfach, runterzukommen und ein bisschen nüchtern zu werden."
"ja doch", sage ich etwas gereizt.
"sorry", schiebe ich nach.
"oh mann", sagt das objekt zum dritten mal während des telefonats. die tonlage ist diesmal unspezifisch. therapeutenneutral. das finde ich arschig. das objekt soll herkommen und mich in die arme nehmen. anderseits bin ich todfroh, dass es professionell genug ist, um sich nicht von meinen eskapaden erpressen zu lassen. das sichert uns die oberhand über das, was gerade mit mir geschieht. seiner inneren distanz werde ich es verdanken, wenn ich es am nächsten tag irgendwann ins büro schaffe.

zwei stunden später bin ich geduscht, angezogen, habe was im magen und mich einmal kurz nach draußen gewagt. ich mache gehorsam meldung.
"du klingst schon besser", lobt mich das objekt.
"aber ich bin wach", beschwere ich mich.
"das macht nichts. dann verstoffwechselst du noch ein bisschen was."
"aber wenn ich wieder nicht schlafen kann?"
"bleibst du eben wach. lies was."
"inzwischen verbinde ich ein buch mit schlaflosigkeit", jammere ich. "ich will lesen nicht irgendwann doof finden müssen."

das objekt seufzt mühsam beherrscht und ich merke, sein geduldsfaden ist zum zerreißen gespannt.
"eigentlich sollte ich vorbeikommen und dir mal richtig den arsch versohlen", sagt es grimmig, muss dann aber lachen. und auch ich muss ein bisschen kichern.
"mach doch", erwidere ich.
"das könnte dir so passen. solange du scheiß baust, mach ich keine rendezvous mit dir. ich bin ja nicht lebensmüde."
"danke dafür", sage ich, "danke, dass du so vernünftig bist und so ein arschloch."
"hör auf mich zu provozieren."
"gar nicht."
"tust du doch. du brauchst echt mal eine geschallert. und jetzt geh schlafen oder wachbleiben oder masturbieren oder was auch immer."
"tschüß du lieber, lieber arsch", beende ich das gespräch.
"machs gut, my suicide-girl."