Samstag, 18. Februar 2012
wir kinder vom hauptbahnhof
ich bin verabredet. ich habe mir bei ebay ein kreischviolettes wählscheibentelefon ersteigert. der besitzer, ein ebenfalls in hh wohnhafter mensch mit unaussprechbarem arabischen namen, schrieb mir, es sei vielleicht kaputt, eigne sich aber hervorragend als skurrile deko. nun gut, das risiko wollte ich auf mich nehmen, schließlich wünsche ich mir schon ewig so ein ding, funktionsfähig oder nicht, und es sollte ja auch nur drei euro kosten.

um viertel nach eins am hauptbahnhof, hatten wir gesagt, genauer vor der filiale einer bestimmten kaffee-zum-gehen-ausschank-kette. und da stehe ich nun. ich bin ein wenig früh dran, überlege, ob ich mir noch einen kaffe-zum-gehen oder vielmehr einen kaffee-zum-rumstehen holen soll, entscheide mich dann aber dagegen, weil ich den kalif von bagdad nicht verpassen will.

während ich so kaffeelos rumstehe, kommt ein wahnsinnig dicker alter mann mit jogginganzug und schirmmütze auf mich zu und mustert mich, die ich in rock und, wie ein bestimmter bloggeronkel sagen würde, viel zu dünnem mäntelchen dastehe.
"junges ding, frierst du nich!" ruft er entsetzt.
"nein", sage ich freundlich.
"kannste mir mal helfen, mädchen", sagt der mann dann und streckt mir ein handy, das vermutlich aus den 90ern stammt, entgegen.
"du kennst dich doch bestimmt mit sowas aus."
"äh... vielleicht", stammle ich.
"da hat wer angerufen, das ist meine freundin, die will mich heiraten. und da ist was, was man lesen kann, ohne dass ich sie anrufen muss."
"sms", schlussfolgere ich.
ich drücke ein wenig auf dem handy herum, was der alte mann mit zahlreichen zwischenrufen "nich anrufen, nich anrufen, det kostet geld!" kommentiert. dann ist die sms lesbar und ich gebe dem alten mann das handy zurück.

"meine freundin, das ist ein luder, musste wissen", fährt der alte fort mich zuzuquatschen.
"gestern sachtse, leih mir doch bitte 50 euro, morgen kriegste 100 wieder... zigeunergeschäfte! mädchen, das sind doch zigeunergeschäfte, sach ich!"
ich gucke und lächle und denke mir meinen teil. schräg hinter dem alten mann steht ein anderer mann mit schultertasche und guckt und lächelt und denkt sich vermutlich ebenfalls seinen teil.

"und was is nun? heute hat sie wieder kein geld. nich 50, nicht 100 euro. jetzt haben wir uns gestritten und ich musses wieder gut machen", jammert der alte mann und streicht sich durch den schlohweißen bart.
"warum musst du was gutmachen, was die alte verbockt hat", frage ich zurück.
"na die is doch noch so jung! die versteht das nich, die is erst 25!"
ich ziehe die augenbrauen hoch. unter der freundin des alten hätte ich mir eher so eine 50-jährige durchgefeierte, abgebrannte ex-puffmutti mit grellrosa lippenstift vorgestellt.
"jaja, ich weiß, ich bin ja auch schon 68... und trotzdem willse mich heiraten. kann das gutgehen?"
ich überlege kurz und sage dann ziemlich entschlossen:
"nein."

der alte mann ist vor entsetzen verstummt. der andere mann mit der schultertasche grinst nun sehr breit. ich überlege, ob der schultertaschenmann eventuell der kalif mit dem telefon sein könnte. denn warum sollte der sonst dauernd so gucken und grinsen?
"warte mal", sage ich zu dem alten mann und gehe auf den schultertaschenmann zu.
"sind sie zufällig..." ich stottere, so gut ich mich erinnern kann, den arabischen 50-silbigen namen.
"nein", sagt der schultertaschenmann freundlich.
"dann sind wir also nicht verabredet", sage ich.
"nein, aber wir können uns ja mal verabreden."
ich mache, dass ich wegkomme und beziehe wieder meinen wachposten. der mann mit der schultertasche trollt sich wenige minuten später. eine polizeipatrouille bleibt kurz stehen und beäugt mich misstrauisch.

ich schiele vorsichtig nach links zum alten mann. der ist gottseidank gerade abgelenkt, weil drei pennerkumpels um ihn rumstehen und mit ihm um einen tetrapack wein zu zanken beginnen. ich bin erleichtert und zünde mir eine zigarette an. ein blick auf die uhr verrät mir, dass der kalif von bagdad jetzt zehn minuten zu spät ist.

"hey, entschuldigen sie, können sie mir geld wechseln?"
vor mir steht ein typ, schätzungsweise um die 20, sehr klein, bomberjacke, sehr aggressive pitbullartige körperhaltung. er schnieft und hibbelt. ein junkie, das sehe ich sofort.
der junkie hat einen fünfer und drei zwei-euro-münzen in der hand und will das geld gegen einen zehner tauschen.
ich finde das sehr merkwürdig. entweder kann der junkie vor lauter turkey nicht mehr richtig rechnen. oder aber der fünfer ist falschgeld und er will gewinn machen. oder aber seine fünf balkan-kumpels stehen in nächster nähe und warten darauf, dass ich das portemonnaie aus meiner tasche hole, um mich zu überfallen und mit meinem geldbeutel im gewühle des bahnhofs zu verschwinden.

doch zum glück habe ich einen losen zehner für den kalifen in meiner jackentasche. ich tausche zehn euro gegen elf euro, der junkie bedankt sich und zieht vondannen. die bullen, die mich vorhin schon komisch beglotzt haben, beobachten die szene aus sicherer entfernung.
ich begutachte vorsichtig den fünfer. er sieht echt aus. keine sichtbaren blut- oder koksspuren. hoffentlich auch kein frei florierenden aids-viren.

"warum meinste denn, dass das nich gutgeht mit meiner freundin?"
der alte mann scheint den streit um den wein verloren und daraufhin beschlossen zu haben, mir wieder ein ohr abzukauen.
"naja, wie haste die denn kennengelernt?" frage ich zurück.
"da drüben, da inner straße da!" der alte mann deutet in richtung inoffiziellen st.-georg-straßenstrich und in meinem kopf formiert sich argument nummer eins, warum der alte mann die trulla nicht heiraten sollte.
"ich hab sie gefragt, ob sie mit mir essen geht, und sie hat ja gesagt. dann haben wir einen schönen abend gehabt und für 100 euro gegessen und getrunken."
argument nummer zwei. junge frauen, die sich von sichtbar armen, unglaublich viel älteren menschen mit einem abendessen im wert von 100 euro bestechen lassen, haben keine lauteren absichten.
"aber jetzt streiten wir so viel und es geht immer nur um geld..."
argument nummer drei, das argument nummer eins und zwei betonfest untermauert.
also sage ich frank und frei:
"die olle will dein geld, so siehts aus."
"meinste?" der alte mann starrt mich mit weit aufgerissenen augen an.
"hat sie jemals was bezahlt, wenn ihr zusammen wart? oder hat sie was für dich gemacht, was sie kein geld, aber doch zeit und mühe gekostet hätte?"
der alte mann glotzt immer noch stumm und sagt dann kleinlaut:
"nö, irgendwie nich."
da kommt ja richtig was an bei dem alten.

mein handy plingt in meiner tasche. der kalif schreibt, er stecke im stau, sei aber gleich da. wahnsinn, ich hatte schon geglaubt, er wolle mich verarschen.

"wie alt biste denn?" fragt mich der alte mann.
"30", sage ich.
"also biste schon aus dem gröbsten raus, wa?" kichert der alte.
"und willst du mal heiraten?" fragt er weiter.
"nee", sage ich, "nicht mehr. ihr männer seid doch alle schweine."
"das ist aber schade", findet der alte mann.
"nein, das ist klug", beharre ich.

dann klingelt mein handy.
"hallo, ich bin da... ich bin aber noch im auto, ich hab keinen parkplatz gefunden!" sagt eine frauenstimme in astreinem deutsch.
ich stutze. entweder der kalif ist ein kastrat oder ich habe die ganze zeit fälschlicherweise nach einem typen ausschau gehalten.
na gut. ich gucke und gucke, dann sehe ich einen riesigen mercedes, in dem eine südländisch aussehende frau sitzt und mir winkt. als ich auf sie zugehe, springt sie aus dem wagen und streckt mir eine plastikttüte entgegen. ich gebe ihr den fünfer, den ich vom junkie bekommen habe und erhalte zwei euro zurück. damit hätten wir das falsch- oder drogengeld auch gleich erfolgreich gewaschen.

"ich muss leider gleich wieder los", sagt die kalifin.
"was machst du denn, musst du noch arbeiten", frage ich.
"ja, ich bin fotografin, wir haben unser set am berliner tor..."
ich staune. die kalifin trägt eine art kittelschürze und wirkt insgesamt eher wie eine gemüsehändlerfrau als jemand, der sich zwischen models bewegt. aber vielleicht ist sie ja eine ganz berühmte künstlerin oder wird es mal noch. die wirklich begabten menschen werden ja immer erst posthum berühmt.

"na, dann danke jedenfalls", sage ich.
"viel spaß mit dem telefon, ich hoffe, es funktioniert!" die kalifin besteigt wieder das auto und braust vondannen.

als ich mich umdrehen und zur u-bahn gehen will, schlägt doch tatsächlich die bullerei zu.
"hallo, was haben sie denn da in ihrer tasche? dürfen wir da mal reinschauen?" die patrouille, die mich beim quatschen mit pennern, beim geldwechsel mit junkies und jetzt bei der übergabe von ware beobachtet hat, nimmt mir die tüte aus der hand.
die weibliche polizistin fragt nach meinem ausweis, während der typ das telefon aus der tüte zieht und irritert glubscht.
"das hab ich über ebay ersteigert, und die frau hat es mir vorbeigebracht... wir haben uns hier getroffen, weil es für beide nicht so weit von unserer arbeit weg ist", erkläre ich die situation.
"das ist ja süß", findet die polizistin und schaut das telefon näher an.
"bisschen kitschig, oder", meint der polizist.
"kann ich jetzt gehen?" frage ich mit liebreizendem augenaufschlag.
"ja, natürlich."
ich bekomme meinen ausweis zurück und darf mich in richtung u-bahn verabschieden.

nach dem überstandenen abenteuer freue ich mich auf zuhause, wo mich niemand ungefragt vollquatscht, kontrolliert oder mir sonstwie auf die nerven geht. dort verbinde ich versuchsweise gleich telefon und buchse. es ertönt das freizeichen.