Samstag, 26. Februar 2011
angeknüpft, aufgeknöpft
meine augenlider flattern und zucken, die füße schmerzen und eigentlich wollte ich jetzt irgendwann mal zu bett gehen. aber die sonne scheint gerade so schön, dem kann man sich nicht verschließen, nicht nach dieser nacht.

zunächst hatte ich mir mit meiner ehemaligen vorübergehenden mitbewohnerin die kante gegeben. gegen 23 uhr waren wir so breit, dass wir kaum mehr die u-bahn fanden. aber ich musste ja nach hause, duschen, mich umziehen und in schale werfen, um dem zappeldrang nachzugehen. außerdem hatte ich heute freien eintritt, da ich mich schon beim dj angekündigt hatte.

auf dem kiez boxte ich mich, inzwischen wieder nüchtern, zwischen besoffenen gestalten hindurch, wich einer schlägerei aus und wurde an der ecke große freiheit beinahe überfahren. nicht besonders gut gelaunt betrat ich die geheiligten hallen. gleich an der garderobe heftete sich ein kleiner, rund 20 jahre älterer spanier an meine füße, pfiff auf der treppe meinen wehenden rockzipfeln hinterher und begann mir dann unten am tresen ungefragt seine lebensgeschichte zu erzählen. fast war ich dankbar, als mich jemand großes unsanft anrempelte und sich zwischen mich und meinen kauzigen verehrer drängte, um mich dann in den arm zu nehmen. weniger gut fand ich, dass es sich bei der betreffenden person um das objekt handelte.

"hey... alles klar? geht dir der sack auf die nerven?" fragte das objekt zur begrüßung ganz unbefangen.
der als sack betitulierte verschwand daraufhin in den menschenmassen.
ich sah mich um, in der erwartung, gleich von irgendwoher die objektfreundin auf uns zustürzen zu sehen. doch das objekt war, wie es sich herausstellte, an diesem abend ganz alleine unterwegs.
"du, ich muss dringend mit dir reden", sagte das objekt dann ernst. "ich habe heute deine karte gelesen."
ich hatte dem objekt vor zwei wochen eine verspätete geburtstags- und gleichzeitig abschiedskarte geschrieben und mich schon gewundert, dass es diese völlig unkommentiert ließ.
wie sich nun zeigte, hatte das objekt in seiner aktuellen katastrophalen lage einfach den briefkasten nicht mehr geleert, aus angst vor rechnungen und klagen und anwaltsschreiben. das erklärte einiges.
"dein brief war so schön, wow, ich hab mich so schlecht gefühlt, weil ich noch nicht danke gesagt habe, denn danke ist das einzige, was mir dazu einfällt. du hast so viel herz und so viel mut und kannst das dann auch noch in worte packen, die mir gänsehaut machen."
selbige bekam ich bei so viel emotion nun auch langsam. denn dummerweise war das objekt in solchen angelegenheiten kein lügner, auch, wenn es sonst oftmals tatsachen verdrehte, um sich irgendwo aus der affaire zu ziehen.

dann saßen wir da und das objekt begann, seine geschichte zu erzählen. vom gesperrten konto und seiner mittellosigkeit. von den drogen. von einem rechtstreit, von dem ich noch nichts wusste. und vom tag, an dem der haftbefehl kam - der tag, der sein leben veränderte.
"zuerst dachte ich, ich nehm eine überdosis und falls ich die überleben sollte, lasse ich mich einweisen. aber ein anderer teil in mir war plötzlich auch da und zwar ziemlich deutlich. der sagte mir, krieg den arsch hoch und dein leben auf die reihe."
der schwerste teil davon war offenbar, von den drogen loszukommen. zittern, kotzen, wochenlange schlaflosigkeit. ein weg der kleinen schritte hatte begonnen, ein normales leben ohne rausch, ohne glücksgefühle, einfach nur arbeiten, kinderversorgung, schlafen.
"manchmal hab ich angst, das kommt nie wieder, dieses glücksgefühl."
es lag mir auf der zunge zu sagen, aber du hast doch deine freundin, entschied mich dann aber dagegen.
"vielleicht gibt es ja gar kein alltägliches glück. das sind vielleicht nur rare momente, alle paar jahre mal einer davon und dazwischen jede menge scheiße. ich hab mich auch irgendwie noch nicht daran gewöhnt, aber ich versuche, es irgendwann mal zu akzeptieren."
"da kannst du recht haben. so kommt es mir derzeit auch vor. eigentlich will ich dieses leben so nicht. aber irgendwie ist da etwas, was mich hindert, alles aufzugeben, ein kilo koks zu nehmen und den exitus zu machen."
"vielleicht gibt dir die option selbstmord ja auch kraft. zumindest bei mir war das immer so. vor einigen jahren, als mir hier alles wegbrach, habe ich auch überlegt, ob es noch argumente dafür gibt, am leben zu bleiben. aber das schöne am suizid ist ja die absolute selbstbestimmtheit und damit auch die freie wahl des zeitpunkts. ich hab ihn immer rausgeschoben und gedacht, hey, es gibt ja eine finale lösung, also kann ich mir den dreckigen rest jetzt auch noch antun und mal sehen, ob irgendwann auch mal wieder was gutes kommt. und ja, da kam immer mal wieder was, was mich randvoll zum platzen mit glück erfüllte."
"unglaublich. du bist wie ich. ich denke auch so, hab das nur niemandem je erzählt, weil ich dachte, es sei völlig krank, so zu ticken."

die alte vertrautheit kam wieder. schmerzvoll für mich. dann stand das objekt auf.
"ich geh noch ein bisschen tanzen."
während das objekt seinen sexy hintern auf die tanzfläche bewegte, kletterte ich nach oben zum dj und setzte dort meine unterhaltung fort. ich bekam einige musikwünsche erfüllt, die ich auch abzappelte. nach einer stunde etwa fiel mir auf, dass das objekt verschwunden war. ich suchte die gänge ab und fand es dann am tresen an einer der vier bars. vor ihm standen mehrere schnapsgläser und eine flasche bier. ich guckte entsetzt. das objekt strahlte mich an:
"ist doch fast wie in alten zeiten, hm?!"
ich wollte mich umdrehen, als das objekt meine schultern packte:
"hey, ich hab nur einen ganz kleinen pegel. drei kurze und ein bier. nicht ne flasche wodka wie sonst immer."
es blieb natürlich nicht dabei. nach dem dritten bier hörte ich auf zu zählen. es ist nicht mein leben, sagte ich mir.
dann spielte der dj unser lied, und das objekt wankte zu mir auf die tanzfläche. und für einen song schien es, als schlüge ein gemeinsamer puls in einem großen vereinten herzen.

als ich das nächste mal auf mein handy sah, war es sechs uhr morgens. das objekt, inzwischen wieder bei cola angekommen, saß zusammengesunken auf der couch.
"ich gehe", sagte ich knapp.
"wie lange musste du denn nun fahren?"
"so rund eine stunde, inklusive fußweg."
"hm."
das objekt überlegte. dann sagte es:
"ich würde dich gern einladen."
"wozu?"
"komm."
das objekt holte seine jacke und winkte draußen ein taxi heran.
"du spinnst ja, du hast doch kein geld", sagte ich.
"keine sorge, das soll dich nicht nach hause bringen. wir fahren jetzt ganz gemütlich zu mir, du kannst doch bei mir schlafen."
bis zum objekt war es nicht weit. für die acht euro fahrtkosten, die der fahrer am ende verlangte, kramte es in allen hosentaschen nach kleingeld und bekam auch sieben euro achtzig zusammen. meine zwei euro lehnte es theatralisch ab.
"ich will das bezahlen, du hast das verdient, weil du so ein toller charakter bist."
aha.
der taxifahrer fand sieben euro achtzig auch okay und ließ uns ziehen.

zwischen nähe und distanz schwankend trippelte ich dem objekt die stufen hinterher bis zu seiner wohnungstür. mein großzügiger gastgeber war mittlerweile wieder quietschfidel, redete die ganze zeit und machte fröhlich zukunftspläne.
"ich will auch noch mal umziehen, hab ich mir gedacht. dein umzug, das war so ein impuls für mich... ich hab da auch schon was im auge..."
das objekt schlüpfte aus den stiefeln und aus der jacke.
und dann aus hemd und hose.
ich guckte weg. ich bin ja schließlich auch nur eine frau. dann fragte ich mit blick zur küchenzeile:
"wo kann ich denn schlafen?" und meinte damit das oben oder unten des stockbettes im kinderzimmer.
stattdessen lüpfte das objekt die decken des bettes in seinem blutrot-schwarzen reich.
"schwing deinen arsch mal ruhig da rein, süße. warte, du kriegst auch die warme zudecke."

dann lag ich stumm und starr verpackt wie für den sibirischen winter unter den schwarz-roten laken. das objekt weilte unter seiner sommerdecke und guckte ebenfalls stur an die zimmerdecke. kein sex, dachte ich, bitte nicht. sonst fängt alles wieder von vorne an.
"ich kann schon wieder nicht schlafen", sagte das objekt nach einer weile.
"versuch es einfach", murmelte ich schläfrig.
"hey, es ist nach sieben, und um neun muss ich eh schon wieder aufstehen, den lütten holen und später dann zur arbeit."
"um so wichtiger, dass wir jetzt schlafen."
da verstummte das objekt und machte die augen zu.
ich lag hingegen wach. irgendwann spürte ich, wie sich das objekt im schlaf zu mir drehte und mich mit armen und beinen umschlang.
fast wie in alten zeiten, dachte ich.

als um neun uhr der wecker klingelte, erschrak ich mich fürchterlich. ich lag nase an hals mit dem objekt, die weichen lippen des objekts an meiner stirn. bittersüße situation. ich wollte mich wegdrehen, tat es aber dann doch nicht. ich sah dem objekt beim wachwerden zu. wie immer ging dies sehr langsam vonstatten. das objekt schläft nur schwer ein, hat dann aber einen schlaf so tief ein koma.
endlich begann es schneller zu atmen und zu blinzeln.
"hey..." das objekt murmelte etwas in seinen nicht vorhandenen bart.
"bitte?"
"ich sagte, mensch, hast du mich heute nacht rangenommen, mir tut ja alles weh."
das objekt grinste süffisant, ich guckte weg.
"du musst aufstehen."
mein unterkühlter ton brachte das objekt in bewegung. es stand auf und schlüpfte in jeans und pulli.

ich begab mich ins bad und putzte derweil die zähne. dann kam das objekt hinzu und steckte sich ebenfalls die zahnbürste in den mund. so standen wir beide zähne schrubbend vor dem winzigen spiegel. das objekt zog grimassen, ich musste schmunzeln.
dann wanderten die objekthände unter mein geliehenes schlaf-shirt.
"das", sagte das objekt mit rauher stimme, "wollte ich schon seit gestern abend tun."
noch während ich überlegte, wohin das nun führen sollte, klingelte es an der tür. das objekt öffnete und sprang dann wieder zurück ins bad.
"das ist meine cousine", flüsterte es aufgeregt. "die weiß nicht, dass es dich gibt, die denkt, ich bin mit meiner freundin fest zusammen."
ich verschanzte mich im bad, während das objekt seine cousine überredete, mit ihm zusammen den lütten zu holen. während die cousine ihre jacke holte, schlüpfte das objekt noch einmal zu mir ins bad.
"zieh einfach nachher die tür hinter dir zu", sagte es.
dann umarmte und küsste es mich. ich versuchte, derweil an etwas anderes zu denken. an meine berufliche misere. an meinen herzkranken vater. irgendwas.
dann ließ mich das objekt los.
"bis bald", wisperte es.
ich wusste nicht, ob ich darauf hoffen oder mich davor fürchten sollte.