Sonntag, 19. September 2010
eingestehen
wenn du morgens im bad beschäftigt bist und die tür unvermittelt aufgerissen wird und vor dir steht ein kleiner junge mit blonden langen haaren und den blitzgrünen augen, die du so gut in einem anderem gesicht kennst, dann, ja dann bleibt keine zeit mehr für haarklammern und fummelkram, denn das kind muss pipi und rennt sonst so lange wie ein irrwisch um den küchentisch, bis der komatöse, restbekiffte vater wieder ins schlafzimmer geht, sich die bettdecke über den kopf zieht und für niemandem mehr zu sprechen ist, wenigstens für fünf minuten, denn es ist anstrengend, ungeheuer anstrengend und nervig, aber irgendwie auch wunderbar.

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dann sitzt die sündige patchwork-familie am frühstückstisch, der lütte mampft drei löffel frühstücksflocken mit milch, bis er nicht mehr mag, weil er matschige cornflakes nicht ausstehen kann, stattdessen will er das mensch-ärgere-dich-nicht-spiel aus dem regal holen und bettelt, spielst du mit mir, aber leider habt ihr nur noch acht minuten, bis ihr los müsst, du zur s-bahn, der kleine zur schule und der vati ins schwimmbad, um vor der spätschicht seine 3000 anti-aggressions-meter zu absolvieren. und während ihr da sitzt und die uhr unbarmherzig weitertickt, und während der vati liebevoll schulbrote macht, betrachtest du den kleinen und fragst dich, wie viele fremde frauen er wohl ständig kennenlernt, die morgens das bad und die küchenbank blockieren und ein bisschen tut er dir leid, und ein bisschen tust auch du dir leid, auch wenn der moment ein stück vom himmel in sich trägt.

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arm in arm auf offener straße fühlt sich merkwürdig intim und pärchen-like an und du sträubst dich innerlich, weil du ja weißt, emotionen sind nur begrenzt möglich, diese konstellation ist ein minenfeld und du schwebst jederzeit in gefahr, dass dir ein lebenswichtiger seelenteil herausgefetzt wird, aber immer wieder gibt es zwei sekunden, in denen du das sträuben vergisst und sich einen halben zentimeter über der magengrube der spätsommer breit macht.

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keine 36 stunden später detoniert dann ein sprengsatz auf euerem minenfeld, ein ziemlich großer sogar, er hat das format einer blonden schönheit, und du weißt, wie der abend enden wird, noch bevor einer seinen mund aufmacht, aber das sind die regeln eueres spiels, die du selbst mit erfunden hast, und heute hast du die arschlochkarte gezogen. nichtsdestoweniger versuchst du dich zu amüsieren und lässt dir von zwei typen ein ohr abkauen, bis sich ein gemeinsamer freund zu dir setzt und dich aus ziemlich heiterem himmel fragt, was um himmelswillen du denn suchst, warum du so rastlos bist und innerlich nie anzukommen scheinst. in diesem moment rauscht die mühsam aufgebaute fröhlichkeit des abends die klippen hinunter, du rollst die augen hinterher, um die tränen erfolglos zurückzuhalten, der freund nimmt dich bestürzt in den arm, und für einen moment bist du dankbar, dass dich jemand kurz vom minenfeld holt und als du wieder sprechen kannst, sagst du, ankommen ist gefährlich, bleiben noch mehr, vor allem, wenn du es dir gegen deinen eigenen willen wünschst.

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auf dem nachhauseweg regnet es im strömen, es macht dich fast froh, diese stellvertreter-tränen der düsterwolken da droben, und auch wenn du gerade erst in der klinik und auf antibiotikum warst, genießt du es, tropfnass und eiskalt zu werden, abzukühlen, um die letzten stunden zu schockfrosten. gegen sechs uhr morgens schließt du das fahrrad an die säule vor deiner haustür, als deine hand, den schlüssel in der tasche suchend, das handy berührt, das kurz plingt und den eingang einer sms ankündigt. du öffnest die nachricht, bist erstaunt, dass der große casanova dir schreibt, bevor er die blonde in die kiste zieht, und bist noch mehr erstaunt, als du liest, verzeih, denn es gibt ja nichts zu verzeihen, schließlich seid ihr euch nichts schuldig und ebenso wenig wäre dies das erste mal. und obwohl das kleine wort nichts ändert, verändert sich dennoch etwas in dir, von dem du noch nicht weißt, was es ist, aber es ist schön, groß und stark.