Donnerstag, 28. Mai 2015
mach mir ne füllung, baby!
mein zahndoc ist eine heiße schnitte. garantiert nicht älter als mitte 30, groß, schlank, mit einem bildhübschen gesicht mit blauen strahleaugen. der schwiegermuttertraum schlechthin.

heute bin ich wie jeden sommer mal wieder zur prophylaxe. ich gehöre zu den wenigen menschen, die so etwas gern machen. zum einen, weil mich meine zähne - anders als andere körperteile - nicht im stich lassen. die sind kräftig, und wenn sie sich nicht gerade knirschenderweise selbst zerstören, relativ immun gegen erosive kräfte wie karies und co. zum anderen mag ich es, wenn das ultraschallgerät meinen mickrigen zahnstein aus den zwischenräumen sprengt. das ist ein schöner, reinigender schmerz.

nachdem wir durch sind, kommt der zahndoc zur kontrolle. alles fein, aber weil ich in einem backenzahn ein ziepen habe, das sich nicht zuordnen lässt, macht er ein röntgenbild. das zeigt, dass der verdächtige zahn innen wie außen gesund ist.
"ein bilderbuchzahn", sagt der zahndoc zufrieden. "da müssen wir uns überhaupt keine sorgen drum machen."
"fein", sage ich.
mein zahndoc schaut mich freundlich an wie immer:
"und sonst? gehts ihnen gut?"
ich blinzle angestrengt, wie meint er das jetzt?
"soweit ganz okay. doofe erkältung, aber sonst..."
"nehmen sie denn noch die ssri?"

da fällt mir wieder ein, dass ich ihm mal von meinen depressionen erzählt habe. alter schwede, das hat er sich gemerkt? über ein ganzes jahr?
"nee, die hab ich vor zwei monaten abgesetzt", sage ich stolz wie bolle.
"gut", findet der zahndoc, "und kommen sie damit zurecht?"
"im kopf inzwischen schon", sage ich. "nur schlafe ich furchtbar schlecht und alles ist übelst verspannt."
"sie sehen auch ein bisschen müde aus", findet der zahndoc. "soll ich sie krankschreiben?"
ich blinzle verwundert. mein zahnarzt will mich wegen müdigkeit krankschreiben?
"das ist furchtbar nett, aber ich muss arbeiten", sage ich.

ich schwinge mich aus dem zahnarzt-stuhl.
"ja dann", sage ich und gebe dem zahndoc die hand.
er hält sie ein bisschen fest und zwinkert mich dann an:
"ich drücke ihnen die daumen."
"wofür?"
"dass... dass sie das packen."
"ich bin gerade ganz zuversichtlich."
"naja, ich weiß... das ist heilt langsam. das ist nicht wie ein beinbruch."
"ein beinbruch kann auch ganz schön nervig sein."
"hatten sie mal einen?"
"nee, aber eine gebrochene hand. hat meine komplette bildhauerei-karriere ruiniert."
"sie machen bildhauerei?"
"neeeeeiiin. ich wollte mal kunst studieren und hab nach dem abi ein seminar dazu belegt. aber mit der kaputten hand musste ich das an den nagel hängen."

im hintergrund taucht die zahnarzthelferin auf:
"kommen sie? der nächste patient ist da."
mein zahndoc schaut mich an:
"wollen sie noch mal wiederkommen?"
ich stutze und schaue dumm.
"wir könnten eine füllung für ihren freiliegenden zahnhals machen, dann ist das nicht mehr so unangenehm", erläutert mir mein zahndoc.
"sowas geht?" frage ich.
"klar. aber es kann sein, dass die nach einer zeit wieder abfällt."
"das würde ich riskieren,wenn das eine kassenleistung ist."
"dann machen wir das."

der zahndoc greift sich höchstpersönlich den praxiskalender und nennt mir einige mögliche termine. wir einigen uns auf einen in der kommenden woche.
"da haben wir dann richtig schön zeit", sagt er und es klingt ein wenig wie ein rendezvous.
"danke", sage ich und habe zartes herzwummern.
"ich drücke ihnen ganz fest die daumen", wiederholt mein zahndoc, bevor er zur tür sprintet und sie mir aufhält.

dann stehe ich draußen im regen und denke: mannomann. entweder ist mein zahndoc ganz raffiniert in sachen kundenbindung unterwegs, oder er mag mich.

jetzt bin ich ein bisschen aufgeregt, was nächste woche passiert. zwischenzeitlich mache ich mir mal ein paar warme gedanken zum thema "wie angle ich mir meinen zahnarzt?"
träumen ist schließlich erlaubt.

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Montag, 25. Mai 2015
vater
mein vater wurde vergangene woche 67. seit längerem bereits hat er herzprobleme. sein herz ist vom jahrelangen bluthochdruck vergrößert. die ersten kleinen operationen stehen an.

mein vater, eher weniger nervenstark, ist deswegen psychisch angeschlagen. habe ich ihn am telefon, komme ich kaum zu wort. ich höre zu, denn ich weiß, wie wichtig es ist, ängste aussprechen zu dürfen, damit sie nicht hefekuchenartig aufgehen und in panik umschlagen.

das schlimmste, was meinem vater nun allerdings bevorsteht, ist eine lebensumstellung. diese hat ihm sein kardiologe angeraten. mein vater ist adipös, bewegt sich kaum und ist von natur aus eher weniger ambitioniert. er hat in seinem leben nie groß um etwas gekämpft, weder geistig noch physisch, sondern ist konsequent den weg des geringsten widerstands gegangen, obwohl er sicherlich nicht dumm ist.

die angeratene lebensumstellung macht ihm nun schwer zu schaffen. verzichten oder sogar etwas neues dazulernen müssen, das ist nicht sein ding.
"ich würde das unbedingt machen", sage ich. "schau mal, du bist privtpatient, du würdest wahrscheinlich einfach ein paar wochen lang in eine diätklinik gehen, dort lecker, aber ausgewogen essen und ein bisschen bewegung in dein leben integrieren lernen. das ist doch fast wie urlaub."
"ich will einfach nur meine tabletten schlucken, dann bin ich doch auch gesund", erwidert er.
ein neues, aktives, gesundes leben, in dem er vielleicht keine tabletten gegen bluthochdruck, cholesterin und zucker braucht, erscheint ihm nicht lebenswert. noch nicht mal den versuch möchte er wagen. bloß keine anstrengung.

es ist nicht meine aufgabe, ihn zu ändern, sage ich mir, als ich mit dem gefühl von enttäuschung auflege. es ist sein leben. aber meine enttäuschung hat noch eine andere quelle.

mein vater war immer ein mensch mit hohen erwartungen. er hat eine subtile art, druck auszuüben und schafft es, mich auch heute in meinem fortgeschrittenen alter noch mittelgroßen schuldgefühlen auszusetzen. seine enttäuschung über mein versagen in beruflicher hinsicht ist wie eine schweigende wand. besonders gut erinnere ich mich an die situation, als ich mein examen machte und eine zehntelnote schlechter als mein cousin abschnitt. während ich heilfroh war, durch die prüfungen gekommen zu sein, war die stimmung bei meinen eltern jenseits von feierlich. mein vater meinte, seine investitionen finanzieller art in mich wären damit wohl alle sinnlos gewesen.

ebenfalls sinnlos waren unter anderem auch seine investitionen in meinen klavierunterricht. im kindergartenalter bereits wurden verklärte vorstellungen in mich hineinprojiziert und ich zur musikalischen früherziehung verdonnert. später lernte ich ein paar instrumente, unter anderem klavier. ich bin allerdings kein musikalisches genie. für ein solides klavierspiel hätte ich deutlich mehr üben müssen. zum abitur hin fand ich dann keine zeit mehr dafür, zumal ich mehr oder minder bei meinem freund wohnte, wo auch kein klavier herumstand. vor ein paar jahren dann sagte mir mein vater, er habe ja schon gehofft, dass das mit dem klavierspielen bei mir mal "etwas wird". ich fragte nach, was er damit meinte, und offenbar gingen seine gedanken durchaus in richtigung pianistenkarriere, auf jeden fall aber in richtung geld verdienen und ruhm.

ich frage mich noch immer, woher diese erwartungshaltungen kommen. meine eltern haben kein abitur oder studium. mein vater hat seine ausbildung mit einer 3,8 beendet - knapp vorbei an durchgefallen also. dass er eine karriere bis zum besserverdiener hingelegt hat, verdankt er ganz allein den regelungen des beamtentums: er stieg durch älterwerden auf, nicht durch einsatz, überstunden oder weiterbildungen. er hat sich nie über das absolut notwendige hinaus engagiert, weder im job noch für anderweitige gute zwecke. dass ein mensch, der selber nie etwas überdurchschnittliches zustande bringen musste, um etwas zu erreichen, mir heute vorwürfe macht, dass mein nicht geringes, kontinuierliches engagement unter den widrigen umständen noch nicht zum gewünschten erfolg geführt hat, ist für mich schwer zu ertragen.

als ich v. heute beim essen die geschichte erzähle, meint er, dass ich unbedingt "endlich von zuhause ausziehen" solle. als ich etwas beleidigt sage, das sei ich bereits mit 16, lacht er nur:
"wirklich? mir scheint, du lebst auch hier in hamburg noch viel zu nah bei den erwartungen deiner eltern."

eiskalt erwischt. und wieder einmal wird mir klar, dass es erwachsenwerden nicht gibt bzw. dass dieser prozess lebenslanges lernen und auseinandersetzung bedeutet, mit sich selbst und anderen. im gegensatz zu meinem vater will ich es anpacken. mein schicksal lenken, wann immer ich die kraft dazu habe. meine aktuelle aufgabe besteht nun darin, an möglichst große mengen dieser kraft zu gelangen.

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Sonntag, 24. Mai 2015
rise again
am freitagmorgen wache ich mit dem schädel des jahrhunderts auf, denn ich habe wieder nicht geschlafen. das verblüffende dann jedoch: die gedankenkreisel stehen still. ich fahre arbeiten, widme mich anschließend zuhause noch eine ganze weile einem brach liegenden projekt, finalisiere die steuererklärung und putze die wohnung. ich denke: wow, alles ruhig. normalität. ich bin so gut drauf und weiterhin unglaublich wach, dass ich um mitternacht noch joggen gehe.

der langerhoffte turn ist also nun doch da. ich weiß nicht, wie lange er halten wird, aber gerade geht es mir gut. im kopf ruhe, nur dezente traurigkeit, die sich aber sehr gut mit den angeeigneten gedanklichen maßnahmen bekämpfen lässt. keine verzehrende sehnsucht mehr, keine objektbesessenheit. die homöopathie? ein wunder? oder nur ein kurzes intermezzo?

auch heute ist kein schlechter tag. abends verabrede ich mich mit der krankenschwester zum feiern. obwohl sie in letzter sekunde absagt, fahre ich in die spelunke. und treffe dort das objekt.

der erste gedanke ist interessanterweise nicht: ohgottohgott, was mach ich bloß, was sag ich ihm bloß?! sondern: scheiße, hoffentlich macht es mir jetzt nicht mein stimmungshoch kaputt. ich hole mir erstmal einen drink, schnappe mir einen bekannten und unterhalte mich. schön beschäftigen. nach innen, um die ruhe zu halten. nach außen, damit das doofe objekt bloß nicht denkt, dass es mich interessiert, es heute zu sehen.

aus den augenwinkeln spähe ich natürlich einige male. das objekt hängt allein rum und tanzt ab und an, ansonsten ignoriert es mich und unterhält sich mit zwei typen, die ebenfalls totale aufreißer-arschlöcher sind. das objekt wirkt für seine verhältnisse unheimlich dünn, auch das gesicht ist hager unter dem wilden bart.

ich bin erstaunt, wie wenig es mich berührt. kein alles verschlingendes bedürfnis, zu ihm zu gehen und es zu bitten, nicht mehr böse zu sein. vielmehr leichter groll: unfassbar, dass es sich offenbar immer noch als opfer fühlt. man muss ja auch mal sehen, was dazu geführt hat. wäre das objekt abgesehen von seinem fremdge(h)ndefekt eine korrekte, integre persönlichkeit, hätte ich damals nach der verpetzaktion sofort bei ihm angerufen und es vorgewarnt. aber nach allem, was es sich geleistet hatte, fühlte ich kein loyalitätsbedürfnis mehr.

ich habe den eindruck, dass es dem objekt nichts ausmacht, mich zu sehen, dass es allenfalls noch immer sauer ist. allerdings packt es etwa eine dreiviertelstunde nach meinem kommen seine sachen und haut ab. die uhr zeigt noch nicht einmal halb vier - keine objekt-zeit, um nachhause zu gehen. kann man von halten, was man will.

später auf dem fahrrad nach hause freue ich mich, dass es schon so schön hell und warm ist. mein bäcker an der holstenstraße hat auch schon auf, also noch rasch frühstück geholt. und nun sitze ich hier, viel zu wach zum schlafen, und viel zu heiter, als dass ich es irgendwie fassen könnte.

drücken sie mir die daumen, dass das ein wenig so bleibt.

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Freitag, 22. Mai 2015
verdammt tief unten
ich warte noch immer auf die selbstregulation meines stoffwechsels. und verliere langsam aber sicher den glauben an eine metamorphose. offenbar kann man nicht einfach beschließen, nicht mehr verrückt zu sein.

neben der schlaflosigkeit und der intensiven anspannung ist die lähmende traurigkeit mit voller wucht zurückgekehrt. das verträgt sich nicht mit dem schlafmangel. der körper kommt morgens nicht mehr hoch. im verlauf des tages schleicht sich die migräne an. arbeiten ist unmöglich.

da ich keinen therapeuten mehr habe, den ich belabern könnte, und die klinik wegen pfingsten unterbesetzt ist, hat sich mein hausarzt kurzerhand der problematik meines überquellenden herzens angenommen.
"setzen sie sich doch nicht so unter druck. sie können doch wieder mit den medikamenten anfangen!"
"ich weiß nicht mehr, was wahr ist... gaukeln mir die medikamente etwas vor, damit ich leben kann, während ich in wirklichkeit alles verändern müsste, weil es mir schadet, oder ist das meine matrix, die mir die normalität als tragödie anzeigt?"
mit der frage nach der wahrheit sind wir im bereich der philosophie, aber mein arzt kann eben nur medizin.

wir versuchen es mit homöopathie und viel baldrian. ich kann schwer dran glauben, versuche es aber, weil ich weiß: der glaube versetzt berge. ich will glauben. erst an die homöopathie und dann an die metamorphose.

abends sitze ich im moor. eine ente entsteigt dem gewässer, setzt sich vor meine füße und quakt mir zärtlich etwas vor, als wolle sie mir lebensweisheiten erzählen. die tränen laufen. gassigeher und ihre hunde starren mich an, es ist mir gleichgültig.

jeden abend verspreche ich mir, morgen wird ein neuer tag. vielleicht musst du nur mal schlafen. eine nacht normal schlafen. oder mit jemandem sprechen. oder eine umarmung.

ich bin schwer versucht, das objekt zu reanimieren, wie immer in schwachen momenten. ein mensch, der mich versteht. der die richtigen knöpfe drückt. haha, wie verführerisch. die sehnsucht ist ein arschloch.

ob wir hier jemals lebend rauskommen?

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Sonntag, 17. Mai 2015
mit 100 kmh
am nachmittag kommt die lederjacke zu mir, um ihre promotion vorzubereiten. wir schreiben vier stunden, dann bin ich alle, unter anderem auch, weil das thema hundertfünfzig prozent aufmerksamkeit verlangt und ich mich damit noch viel zu wenig auskenne.
"ich beneide dich so um diese chance", sage ich warm und schaue die lederjacke liebevoll an.
"is aber n haufen arbeit, verdammt", schnauft die lederjacke, um dann hinzuzufügen:
"aber wenn ich erstmal prof bin, du... dann hab ich meine 4000 tacken und kauf mir ne finca, und da sitz ich dann die fünf monate semesterferien im jahr und bereite meine seminare vor!"
ich schmunzle:
"heirateste mich, bevor ich flaschensammlerin in deutschland werden muss?"
die lederjacke schüttelt energisch den kopf und meint:
"wohnen kannst du natürlich bei mir. aber heiraten ist doch quatsch! das mach ich nicht. nie im leben. so ein verlogener scheiß!"

später sitzen wir in meinem lieblingsimbiss und teilen uns nudeln und ein fischgericht.
"was soll denn nun aus mir werden?" frage ich die lederjacke mal wieder. "was würde denn zu mir passen?"
"mach doch das ref", rät mir die lederjacke zwischen zwei gabeln glasnudeln.
"was würde mich denn in deinen augen dafür qualifizieren, lehrerin zu sein?"
die lederjacke denkt scharf nach und sagt dann:
"du bist so ein unglaublich guter mensch, du könntest kindern ganz viel geben, weil du so empathisch bist."
"boah, lederjacke", rufe ich. "genau deswegen wäre ich doch total am arsch als lehrerin. ich wäre der punching-ball im null-bock-kampfring! als lehrerin musste hart sein, knallhart und cool und darfst nichts an dich ranlassen. nicht den scheiß der kinder, nicht den krampf mit den eltern, nicht das gesülze der kollegen und schon gar nicht das bewusstsein, dass du für ein schweinesystem arbeitest, das auf die totale ersetzbarkeit in einer leistungsgesellschaft und soziale kälte vorbereitet!"
"hm", sagt die lederjacke, "so gesehen haste schon recht. aber für den ein oder anderen wärst du eine offenbarung."

als wir fertig mit dem essen sind, bin ich ganz aufgewühlt. ich denke daran, dass es mit tabletten viel einfacher war. just in diesem moment schaut mich die lederjacke von der seite an und sagt:
"du, ich finde das übrigens ganz großartig, dass du so stark bist und die medikamente abgesetzt hast."
"danke", sage ich leise.
"wie ist das eigentlich so, wie sind da die unterschiede?"
"körperlich oder geistig?"
"beides, wenns für beides unterschiede gibt."
"also, erstmal schlafe ich viel weniger... und ich habe wieder mehr schmerzen, weil die anspannung steigt und ich total verkrampfe. das ist das körperliche. im kopf ist alles wieder viel intensiver. ich kann so in den himmel schauen oder in die blätter eines baums und es ist wahnsinnig schön, so schön, dass ich mich dadurch mit der ganzen welt verbunden fühle... die kehrseite ist, dass alles traurige auch wieder viel intensiver ist. ich habe wieder viel mehr angst - vor menschen, vor meiner sozialen lage, vor jedem tag. alles ist schwieriger und sperriger, der kopf rattert die ganze zeit und ich hab angst, dass mir irgendwann die sicherungen durchbrennen. aber ich versuche, die angst auszuhalten. es muss sich doch auch mal einpendeln, meinst du nicht?"
die lederjacke lächelt unsicher, das ist nicht ihr terrain, doch dann sagt sie:
"das mit dem rattern im kopf kenn ich auch, ich kann auch ganz schwer abschalten. aber versuchs doch mal als gabe zu sehen. du kriegst viel mehr mit als andere. für irgendwas muss das doch auch nützlich sein."

solange ich mit der lederjacke unterwegs bin, geht es mir gut. zuhause dann packt mich die große leere wieder. zum glück schreibt mir v., ob ich nicht noch mit ihm was trinken gehen möchte. dankbar antworte ich mit ja und verabrede mich mit ihm auf dem kiez.

als ich bei der kneipe ankomme, in der wir uns treffen wollen, findet dort gerade eine schlägerei statt. ich drücke mich an die hauswand und hoffe, dass mir keiner auf die fresse haut. dann kommen auch schon die bullen angerast mit tatütata, vier autos insgesamt. die ordnungshüter springen aus den wagen und krallen sich die unruhestifter, nur einer entkommt, aber eine junge frau, die offensichtlich auch mit in den kampf verwickelt war, hetzt zwei polizisten auf den flüchtenden, der dann auch gleich aus dem trubel herausgezerrt, gegen ein auto geworfen und durchsucht wird.
ich drücke mich ganz vorsichtig an den immer noch schreienden und sich wehrenden menschen vorbei und verschwinde in der kneipe, wo v. schon auf mich wartet.
"da draußen gehts ja ab", sage ich zur begrüßung.
"ach, das ist halt großstadt", sagt v. beruhigend und umarmt mich.

v. hat mir schon einen gin tonic geordert und eine warme welle schwappt über mein herz, weil ich das eine so schöne geste finde.
dann will v. erstmal wissen, wie sich der zustand meinerseits hält. ich berichte.
"meinst du, du ziehst das weiter durch?"
"weiß nicht. in zwei wochen hab ich wieder termin in der klinik, da bespreche ich das mal. ist halt irre anstrengend so. alles sehr fragil, aber auch irgendwie schön. so mehr ich, weißte?"
"und denkst du dann auch mehr an suizid?" will v. wissen.
ich überlege.
"das thema ist präsenter, ich würde auch sagen, dass in einer akuten situation die hemmschwelle vielleicht niedriger läge... aber insgesamt kann ich das im moment noch ganz gut durch geistige anstrengung ausbalancieren."
"hast du keine angst, dass es dich einfach mal überkommt?"
"das kann ich mir ehrlich gesagt so konkret gar nicht vorstellen."
"ich hatte ja mal so einen moment..."
"wie meinst du das?"
"das ist schon länger her, ich kam damals gerade von meiner freundin, war eigentlich ganz gut drauf, und dann hatte ich irgendwie so einen impuls... und hab das auto gegen nen baum gesetzt."

ich mache augen wie untertassen und bin erstmal sprachlos.
"aber daraufhin haben sie dich doch sicherlich eingebuchtet?" frage ich, als ich mich wieder berappelt habe.
"nee. also, der fall wurde natürlich untersucht, gab ja keine bremsspuren, es war eine freie strecke und ich hatte 100 sachen drauf. aber der polizist meinte bei der vernehmung ganz lapidar, ist ja jedem seine sache, was er mit seinem leben macht. meine freundin war damals übrigens auch ganz cool und sagte, wenn du meinst, dann bring dich halt um."
ich überlege.
"eigentlich ganz clever."
"das hat mich damals echt verletzt!"
"ja, aber... das ist gut, wenn sich jemand nicht emotional erpressen lässt, weißte? das objekt war in solchen momenten auch immer ganz distanziert und klar und hat mich in die pflicht genommen."
"wie, in die pflicht genommen?"
"wenn ich am telefon rumgeheult hab, vonwegen ich will nicht mehr, dann sagte es meist nur, gut, du hast zwei möglichkeiten, ich rufe jetzt den krankenwagen, oder du überlegst noch mal und wir vereinbaren was."
"und das funktioniert?"
"solange jemand absprachefähig ist, also trotz emotionalem stress auf gewisse geistige ressourcen zurückgreifen kann, geht das."
"ich habe immer gedacht, dann sollte man jemanden vielleicht einfach mal in den arm nehmen?"
"könnte man, aber die gefahr ist dann halt, dass der andere dann immer mit suizid droht, nur weil er in den arm möchte."

wir sitzen eine weile da und gucken stumm vor uns hin.
"trotzdem, ich bin noch immer ganz schockiert", sage ich dann und schaue v. an. "ich hätte dir das nicht zugetraut."
"ich habs mir selbst nicht zugetraut. das war ein bruchteil einer sekunde, in der ich das entschieden habe."
ich schaue in meinen leeren gin tonic und überlege, ob das der moment für eine umarmung wäre, bis mir klar wird, dass ich mit medikamenten gar nicht überlegt hätte, also überwinde ich mich und nehme v. kurz in den arm. ich denke nach, ob ich noch etwas sagen sollte, etwas kitschiges wie "mach das nie wieder", aber ich entscheide mich dagegen, versuche nur, ein bisschen nähe zu geben und fertig.
"du zitterst", sage v. schmunzelnd, als er mich wieder loslässt.
"ist die anspannung, weißte, ich bin nicht so gut in sowas."
"warum?"
"vielleicht, weil ich denke, dass du nicht umarmt werden möchtest? oder zumindest nicht von mir?"
"warum sollte ich nicht von dir umarmt werden wollen?"
ich gucke wieder in mein glas und schäme mich für mein misstrauen.
"ich fand das gerade echt schön", sagt v. noch, aber ich schaue nicht hoch, also schweigen wir lieber schnell wieder.

als wir am ende des abends vor die kneipe treten, ist es längst hell.
"scheiße, schon halb sechs", sagt v.
"ich mag das", sage ich. "jetzt noch schön radfahren, das wird mir gut tun."
"da hätte ich sowas von keinen bock drauf."
ich grinse:
"wenn ich kohle hätte, würde ich jetzt natürlich auch ein taxi nehmen."
"wenn du eines brauchst, sag bescheid."
"nee, lass mal."
dann verabschieden wir einander.

als ich die straßen entlang radle, umfängt mich der morgen mit seinem speziellen licht und einem duft, der an jeder ecke anders riecht. ein bisschen regen kommt ab und an von oben, aber für den moment ist alles in mir friedlich und freut sich auf das bett.

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