Montag, 24. Dezember 2012
und dann kam mutti
als ich dem objekt die türe öffne, strahlt es mich an, obwohl alles wieder mal länger gedauert hat als gedacht, weil die schichtablösung 20 minuten zu spät dran war und überhaupt weihnachten in der klinik die hölle los ist.

das objekt pfeffert die motorradjacke in die ecke, steckt sich erstmal eine kippe an und wechselt dann die hosen. unter der arbeitsbekleidung hat es sich für objektverhältnisse richtig fein gemacht: schwarze stoffhose, weißes shirt, schwarzes hemd.
"wow", sage ich und das objekt kommt näher:
"ich hab mich sogar rasiert, fühl mal!"
ich kraule die objektwange, in die sich trotz des noch nicht dramatischen objektalters bitterkeit und frohsinn zu gleichen teilen in form von erschreckend tiefen falten verewigt haben.
"und du hast geduscht", stelle ich angenehm überrascht fest.
"naja, ich wollte nichts riskieren, falls du zum blowjob übergehen möchtest", grinst das objekt frech und zieht mein becken zu sich heran. dann schiebt es die hände in meinen hosenbund und stellt fest, dass ich dünner geworden bin.
"du musst echt dringend was essen", findet es.
"ich hab auch ganz feudal eingekauft", antworte ich.

das objekt steht am offenen kühlschrank und ist begeistert angesichts frischer teigwaren, landkäse, fisch und thailändischer mangos.
"sag mal, das hat doch ein vermögen gekostet!"
ich grinse nur und nicke.
das objekt küsst mich.
"du bist ein herz."
"nein, du. du weißt doch ganz genau, dass ich heute alleine gewesen wäre, und bist jetzt hier, obwohl du eine andere frau wo sitzen hast, die ständig auf deine anwesenheit verzichten muss."
"ich will ja bloß dein internet benutzen und musik recherchieren. naja, und natürlich den blowjob."
ich puffe das objekt in die seite und klammere mich dann an, bis mich das objekt wegschiebt:
"sorry, ich hab weihnachten echt immer eine ganz komische stimmung, ich kann da nur begrenzt zärtlichkeit annehmen. hat vermutlich was mit meiner kindheit zu tun."
ich lächle.
"siehst du, und ich kompensiere heute meine sehnsüchte. mit dir, mit essen und alkohol."
"also zum essen würde ich dringend raten."
"dann mach ich mal wasser heiß."
"jawohl, frau, ab in die küche. und vati dreht derweil einen schönen dicken, langen joint."

es gibt tortelloni und fisch mit einer experimentellen soße, die ich selbst gezaubert habe. das objekt ist ganz angetan.
"was ist denn das grüne da?" will es wissen.
"basilikum."
"ah. na ich bin jedenfalls beeindruckt. und du sagst immer, du kannst nicht kochen!"
"kann ich ja auch nicht. reiner zufall, dass das essbar ist."
"quatsch, du bist ein sinnlicher mensch, du zelebrierst dinge und schaffst dir rituale, warum solltest du beim kochen keinen geschmack an den tag legen?"
"wenn du meinst."
"ich meine nicht nur, sondern das hier ist ganz eindeutig einfach köstlich."

später sitzen wir bei musik rum und unterhalten uns.
"du siehst echt ein bisschen besser aus als am samstag", finde ich.
"ich hab leider wieder nicht mehr geschlafen als drei, vier stunden."
"hm."
"ich habe gestern sogar zwei stunden mit meiner mutter telefoniert und ihr gestanden, dass ich über eine therapie nachdenke."
"ach du grüne neune. und was hat sie gesagt?"
"sie hat sich sorgen gemacht, war aber eigentlich ganz cool."
"für mütter ist sowas immer ein harter brocken. da kommt bestimmt noch was nach."
"glaub ich nicht. die sitzen da in ihrem dorf und können sich das hier sowieso alles nicht vorstellen."
"hast du manchmal sehnsucht?"
"nach zuhause? nie. ich hab sehnsucht nach den guten zeiten, wenn dann. kennst du das?"
ich nicke.
"so mit 23 war ich echt glücklich. mein studium war toll, meine freunde waren toll, ich bin noch mal in eine neue wohnung gezogen, so mit badewanne und allem drum und dran... ich konnte mir die leisten, weil ich ne gute arbeitsstelle hatte und es gab irgendwie recht wenig probleme. gar keine, um genau zu sein. ich war sogar so happy, dass ich hoffte, dass ich mich nicht verliebe, weil ich dann weniger zeit für meine freunde hätte. wir waren die ganze zeit am feiern, und wenn wir nicht gefeiert haben, konnten wir super miteinander reden... so richtig, über gott und die welt."
"dann hast du heute natürlich auch entsprechend hohe erwartungen an dein soziales umfeld, hm?"
"naja, ich weiß, wie sich glück anfühlt. und glücklich war ich bis auf wenige sporadische momente nicht mehr, seitdem ich 25 bin."
"hast du das auch, dass dich das glück manchmal anwidert? dass du sagen möchtest, geh doch weg, glück, hau ab, du bist doch sowieso nur eine vorübergehende illusion?"
ich nicke.
das objekt betrachtet mich:
"wir sind uns echt ähnlich."
ich gucke nur, rauche kette und fühle mich vollgefressen.
ich mache ein bäuerchen und das objekt lobt mich:
"du hast richtig gut gegessen."
"wenn ich nicht allein vorm rechner esse, ist das auch was anderes."
"glaub ich dir."

wir reden irgendwann immer weniger, es macht sich ein schweigen breit, dieses berühmte schweigen wohligen einverständnisses, des wortlosen verstehens. wir legen für einander musik auf und weisen auf den text hin. andere sprechen lassen, darin sind wir beide gut. eine reihe kleiner liebeserklärungen und wertschätzungen und kultureller perlen, nur für uns beide.

bis plötzlich das objekthandy klingelt.
ich bin sofort angenervt und denke, es ist die objektgespielin, die mal wieder was will oder kontrolliert oder flunschig ist. doch am objektton merke ich sofort, dass es jemand anders ist.
"ja, ist gut. ich hole dich natürlich ab. ja, es kommt jetzt eben nur ein bisschen überraschend, und ich bin auch derzeit gar nicht zuhause..."
dann lässt das objekt das handy sinken und sagt fassungslos:
"meine mutter ist auf dem weg hierher."
ich bin irgendwie wenig überrascht:
"das hab ich kommen sehen. die macht sich sorgen."
"ich soll in einer stunde am bahnhof sein und die abholen."
"dann machst du das."
"ich will das hier aber nicht so abbrechen! ich will hier gar nicht weg."
"naja, wenn du deiner mutter das herz ausschüttest, ist das recht normal, dass sie irgendwie reagieren wird. unsere eltern sind rentner, die haben zeit. die machen auch mal was damit."

das objekt muss erstmal auf klo, stresspipi loswerden. dann kommt es wieder ins wohnzimmer.
"ich hab SO KEINEN BOCK auf meine ehemalige erziehungsberechtigte."
"ich finde das ja irgendwie süß. da setzt sich deine mutti an heilig abend spontan alleine in den zug und fährt stundenlang, weil sie weiß, ihrem sohn geht es gerade nicht gut."
"ja, sie meint es ja auch gut... nur..."
"wo bringst du sie unter? hat sie denn ein hotel?"
"nee. die will bei mir schlafen.
bei mir fällt der groschen:
"deine mama weiß nicht, dass du aus der wohnung rausgeflogen bist."
das objekt schüttelt den kopf.
"aua, dann wird das heute auch noch der tag der wahrheit."
das objekt guckt sehr verzweifelt. ich nehme es fest in die arme und es kuschelt sich an, und für einen moment fühle ich mich wie die mama.

eine halbe stunde später packt das objekt seine sachen zusammen.
"wie komm ich jetzt zum bahnhof?"
"mit der u-bahn."
"echt, hier ist ne u-bahn?"
"klar doch. es sieht zwar aus wie pampa hier, ist aber keine. du bist in 12 minuten im stadtzentrum."
"krass. ich hab hier immer das gefühl, als wäre ich schon raus aus hamburg."
ich lächle:
"naja, ist schon anders als da bei dir in der romantischen sozialhochhaussiedlung."

arm in arm wackeln wir zur u-bahn.
"was machst du nun mit dem angebrochenen abend?" fragt mich das objekt.
"ich such mir wen anders für den blowjob."
das objekt grinst gequält.
"hauptsache, es geht dir jetzt nicht schlecht."
"glaub bloß nicht, dass du mir irgendwie wichtig bist."

wir stehen an der u-bahn und halten uns fest umschlungen, so fest, dass wir nicht merken, dass schon ein bahn durchgefahren ist. dann muss das objekt eine fahrkarte kaufen, die es nicht bezahlen kann. ich lege die fahrkarte aus und das objekt schämt sich.
"da gibt es nichts zu schämen", finde ich.
"doch, ich bin über sechs jahre älter als du und vater und krieg nichts auf die reihe."
"tröste dich. mein vater hat mich erst gestern am telefon wieder merken lassen, dass er mich für eine totalversagerin hält und mir nicht mehr glaubt, dass ich irgendwann mal die füße auf den boden kriege."
"genau das richtige zu weihnachten", lacht das objekt bitter.
"ja klar. das kind ist dazu da, erfolgreich zu sein, kohle zu machen und den eltern gesprächsstoff zu liefern, damit sie vor bekannten und verwandten angeben können."
das objekt knuddelt mich ein letztes mal und sagt sehr ernsthaft:
"lass dich nicht runterziehen. du bist ein großartiger mensch. wer dich wirklich kennt, wird dich lieben."
ich kriege rührungstränen in den augen und schiebe das objekt unwirsch richtung rolltreppe.
"los, ab zu mutti, und lass dir auch mal die leviten lesen, weil du es in deinem leben zu nix gebracht hast."
das objekt winkt ein letztes mal, dann ist es auf dem bahnsteig, während ich langsam kehrt mache und traurigkeit und glück gleichermaßen in mir aufsteigen fühle.

das war mein weihnachen 2012. jetzt kommt nichts gutes mehr. nur sehr viel whiskey.
prost.

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