Sonntag, 25. November 2012
nacht(h)eulen
im job ist es derzeit emotional anstrengend. nachdem ich die geschäftsleitung dabei ertappt habe, wie sie ihr team vor einem kunden schlecht redete, habe ich das zitat zusammen mit ein paar deutlichen worten in eine e-mail gepackt, den rest des teams in cc gesetzt und das dann abgeschickt. konfrontationskurs, das kann ich dank psychopharamaka und dem neuen lebensgefühl "ist sowieso alles egal, wertlos und vergänglich, vielleicht bist du morgen schon tot, also hau immer voll in die kacke" inzwischen sehr gut. ähnlich wie nach dem chefseitig befohlenen, vorzeitigen abbruch meines letzten mikrourlaubs spammt die gf jetzt sorry-blabla, das ich nicht mehr für glaubwürdig halte. es bleibt ein bitterer nachgeschmack, inklusive der gewissheit, dass meine tage in diesem büro mehr als gezählt sind.

freitag bin ich so erschöpft, dass ich schon gegen mitternacht im bett liege und erstmal 13 stunden schlafe. am samstag bin ich arsch, muss mich schon wieder über andere leute (= den asozialen mülltonnenwächter) echauffieren und schaffe es dann wieder nicht, in den club zu gehen, ohne vorher noch mal die heizdecke aufzusuchen. nach einer doppelten dosis psychopillen, einer kalten dusche und einem energy-drink habe ich dann endlich ausreichend herzflattern, um zur u-bahn zu kriechen.

im club ist niemand außer w., einem bekannten der k.-ex. also unterhalte ich mich die halbe nacht mit ihm. w. ist 45, hat schon in halb europa gewohnt, die westcoast der usa abgegrast und lebt nun wieder in hh, wo er geboren ist.
außer uns sitzt noch eine rock-band am tresen, die keiner kennt. wir trinken ein paar mexikaner zusammen, bis ich sodbrennen habe und auf wasser umsteige.

"weißt du, was das schöne ist, wenn man samstag bis in die puppen rumsitzt und feiert?" fragt mich w.
"wasn", frage ich zurück.
"dass morgen der wecker nicht klingelt... und man nicht arbeiten muss... sondern einfach liegenbleiben kann, bis es schon wieder dunkel wird. niemand stört einen, keiner quatscht einen voll. irgendwann steht man dann auf, trinkt einen kaffee und raucht eine zigarette. das ist wahre freiheit."
"ich finde es immer traurig, wenn ein tag vergeht und ich kein sonnenlicht hatte. deshalb stelle ich mir auch den wecker."
"krass", findet w.
"ich brauch das", erkläre ich. "ich hab depressionen."
"ach nein!" ruft w., "das hätte ich nicht gedacht. du hast doch so viel humor."
"trotzdem bin ich eigentlich ein ziemlich verzweifelter und kaputter mensch."
"wie kommt das denn? wann hat das angefangen?"
"ich glaube, ich war schon als kind so. ich war ganz oft traurig und viel allein. nicht, weil mich jemand abgelehnt hätte oder so. aber meine mutter war immer krank, mein vater hat gearbeitet und freunde hatte ich irgendwie keine, weil ich mich für die spiele der anderen kinder nicht interessiert habe."
"und was hast du so gemacht als kind?"
"ich hab eher so erwachsenenkram gemacht. hab mir lesen und schreiben beigebracht. hab meine kranke mutter versorgt und den haushalt gemacht."
"krass", sagt w. wieder.
"ich fand das nicht schlimm, ich war kein ausgebeutetes kind oder so. es hat mir spaß gemacht und ich wurde geliebt, wenn ich gut war."
"aber ein bisschen krank ist das trotzdem, oder?" findet w. "warst du denn glücklich?"
"manchmal schon. ich weiß natürlich nicht, ob andere kinder mehr oder öfter glücklich sind oder was kinder konkret glücklich macht."
"ich habe einen großen bruder und eine große schwester", erzählt w. "mein großer bruder jammert immer, weil er der älteste war, um alles kämpfen musste und weil von ihm am meisten erwartet wurde. meine schwester jammert immer, weil sie das einzige mädchen unter brüdern war. und ich, ich fand es immer doof, dass auch dann zwei auf mich aufpassten, wenn unsere eltern schon mal nicht da waren."

ich lache laut.
"ich habe aber trotzdem keine depressionen bekommen", sagt w. ernst.
ich zucke die achseln.
"wie ist das denn so?", fragt w. vorsichtig. "also falls es dir nichts ausmacht, darüber zu reden."
"nein, gar nicht, es ist ja eine anerkannte stoffwechselerkrankung."
"das stimmt, aber viele schämen sich trotzdem. ich stell mir das schlimm vor, wenn man so krank ist und dann auch nicht darüber reden kann."
"das habe ich auch in den ersten monaten nicht gemacht, einfach weil ich nicht wusste, dass ich richtig krank bin und weil ich hoffte, das würde wieder werden, wenn ich die drogen weglasse. ist aber immer schlimmer geworden, so über vier, fünf monate hinweg, bis zum totalen zusammenbruch."
"und wie ist das so, was denkst du dann so?"
"man wacht morgens auf und ist so müde wie wenn man den ganzen tag gearbeitet hat. man ist so kraftlos, dass einen der gedanke daran, dass man zähneputzen muss, zur verzweiflung treibt. ich hatte keine energie mehr, wäsche zu waschen, zu putzen und den müll rauszubringen. ich bin nur in die arbeit gefahren und hab mich dananch ins bett gelegt und an die wand gestarrt. ich war am ende zu fertig, um zu duschen oder zu essen oder einen film zu sehen."
"hast du dann viel geweint?"
"komischerweise gar nicht. alle emotionen waren tot. ich war völlig gleichgültig. ich hatte nicht mal die motivation, mich umzubringen, weil mich das zu viel kraft gekostet hätte. ich bin bei rot über die ampel gelaufen und hab gehofft, dass mich ein auto erwischt. hatte aber glück. oder keins, wie man es nimmt", kichere ich.

"was hast du dann gemacht? ich meine, du hast dir hilfe geholt, oder?" fragt w. weiter.
"ich hab das objekt angerufen und gesagt, dass es mir nicht so gut geht und ob es mir tavor aus der klinik mitbringen kann, damit ich schlafen kann. da hat es nachgefragt und mich zum quatschen gebracht."
"achja, der arbeitet ja da..."
"genau. jedenfalls hat er dann versucht rauszufinden, was mit mir genau los ist. er hat mich jeden tag angerufen und versucht, mich mit so ein paar tricks und tipps da rauszuholen. den tag strukturieren und sowas."
"hat das geholfen?"
"ich denke, sowas hilft schon, nur war es bei mir zu spät."
"und dann?"
"nach ein, zwei wochen gingen dem objekt dann die guten ratschläge aus und es bekam angst, dass ich mich irgendwann umbringe, weil es immer schlimmer wurde und ich irgendwann völlig irrational dachte und handelte. außerdem war ich nicht mehr imstande, mich zu versorgen. ich war auf dem besten wege, richtiggehend zu verwahrlosen, und ich bin eigentlich ein ziemlich reinlicher mensch. dann hat mich das objekt in die klinik gebracht."

"dann hast du ja einiges hinter dir", bilanziert w.
"kann man so sagen."
"ich bin ganz sprachlos, ehrlich", gesteht mir w. "und ich finde es toll, dass du rausgefunden hast, das war bestimmt nicht einfach."
"es ist immer noch nicht einfach. aber wenigstens will ich jetzt nicht mehr sterben. ich weiß nur noch nicht so ganz genau, wie ich leben soll, auch wenn inzwischen vieles klarer ist. und ich bin dem objekt sehr dankbar. ohne seine hilfe wäre ich vielleicht irgendwann tatsächlich tot gewesen. irgendwann hätte das mit dem überfahren-lassen vermutlich geklappt."

w. schaut mich an und schweigt, aber ich sehe, dass er berührt ist von der geschichte. einer geschichte, die viele lieber nicht hören wollen, weil sie angst haben, dass ihnen daraus verpflichtungen erwachsen könnten, die sie nicht halten wollen.

"komm, wir trinken noch einen", sage ich versöhnlich und ordere tequila.
"tequila haut aber echt rein", findet w.
"na und? man stirbt nur einmal", lache ich.

später wanken wir durch ottensen, einen stadtteil, der auch nur bei dunkelheit wirklich hübsch ist. w. wohnt in der nähe, und weil ich noch wach bin und w. betrunken, bringe ich ihn. vor der haustür nehmen wir uns in die arme.
"wir können uns ja mal auf einen kaffee treffen", schlägt w. vor.
"oh ja", freue ich mich. "bitte kill meine schrecklichen sonntage! ich kann auch abartige horrorfilme mitbringen, passend zu meiner wenigkeit."
w. lacht.
"was denn zum beispiel?"
"ich habe die alien-trilogie auf dvd. noch nicht geschaut."
"oha, naja, wir sehen mal, ob wir uns da auf was einigen können."
w. schließt die haustür auf, ich mache kehrt und winke nonchalant. dann laufe ich zur bahn.

in winterhude angekommen kaufe ich mir noch bei meinem neu entdeckten biobäcker zwei biobrötchen. sie sind noch heiß, innen fluffig und außen knackig und insgesamt so zart, dass der deckel bricht, wenn man sie mit dem messer teilt. die kleinen freuden des lebens, und ich bin glücklich, sie wieder empfinden zu können.

dann ich laufe nach hause. im osten schimmert ein heller streifen am horizont. ich gehe ins licht und hoffe, dass ich etwas licht mitnehmen kann für die dunklen stunden, vor denen ich noch längst nicht gefeit bin.

... link