Mittwoch, 3. Oktober 2012
die nacht der deutschen einheit
subtitle: zeichen und wunder

nachdem ich gestern sehr ausgeglichen und happy meinen tag im büro abgesessen habe, mache ich mich schick für party. ich bin noch einmal mit der krankenschwester und außerdem mit mr. shyguy verabredet.

ziemlich spät mache ich mich auf den weg. das auto von mr. shyguy steht schon vor dem club, ich bin mal wieder die letzte. der nette garderobenmann ruft mir wie immer zu "jeder später der abend, desto hübscher die gäste" und winkt mit der gästeliste.

vor der zweiten tür steht das objekt-fahrrad. so ein mist. eigentlich ist es mir egal, ich ignoriere das objekt einfach und es macht mir eigentlich nicht viel aus. doof ist nur, dass sich unser freundeskreis im club stark überschneidet und ich weiß, dass ich wieder kaum ein wort mit mr. shyguy wecheln werde, wenn das objekt die aufmerksamkeit abzieht.

zum glück ist die krankenschwester gleich um mich rum. wir setzen uns an die bar und trinken ein bier. gegenüber sitzen mr. shyguy und das objekt. mr. shyguy kommt rüber und herzt mich, das objekt bleibt sitzen und starrt an die wand. es ist sehr blass und hat tiefe augenringe.

"der sieht aber mies aus", sage ich zu mr. shyguy.
"dem gehts, glaub ich, nicht gut."
"was ist denn schon wieder?"
"keine ahnung, er sagt, er will nicht drüber reden. frag du ihn doch. oder sprecht ihr immer noch nicht wieder miteinander?"
"du, ich bin durch mit dem. kein bock mehr auf monologe."
"du bist echt hart."
"reiner selbstschutz."
"ich versteh das schon, aber schade ist es trotzdem."

wir tanzen viel. das objekt und ich nutzen die entgegengesetzten seiten der tanzfläche, daher gibt es kaum unangenehme aufeinandertreffen. ich merke, dass es mich des öfteren ansieht.
ich kann es handeln. ich kann heute alles handeln. ich fühle mich beschwingt, bin unalkoholisiert und ganz da. mit den richtigen leuten sind solche abende wunderbar. ich verbringe einige zeit beim dj und lasse mich in neue musikalische entwicklungen einweisen, dann lehne ich zufrieden in meiner ecke und gucke den menschen zu.

das objekt hängt auf einem barhocker und hat das gesicht in die hände vergraben. dann sieht es wieder zu mir her. ich stehe auf und wechsle den raum. das geglotze wird mir langsam zu viel. ich will aber auch noch nicht nach hause gehen. ich habe noch nie ein revier geräumt, damit fange ich heute, am tag der deutschen einheit, bestimmt nicht an. außerdem bin ich schadenfroh, dass das objekt mit der situation offenbar doch nicht so eiskalt umgehen kann wie es gerne den anschein geben würde. doch meine neu erworbene bedürfnislosigkeit schützt mich vor herzerweichung.

mr. shyguy hat ein mädchen kennengelernt. das freut mich über die maßen.
"die hat aber einen fetten arsch", mault mr. shyguy.
"dafür hat sie im gegensatz zu den ganzen dürren mädels hier ein hübsches gesicht... und einen fabelhaften humor."
darüber hinaus hat sie auch gute ideen und überredet mr. shyguy und mich, am übernächsten wochenende auf eine andere party zu gehen, auf der ich schon zwei jahre nicht mehr war - eigentlich ohne grund oder allein aus bequemlichkeit, weil der stammclub als zweites wohnzimmer einfach verlockender war.
mr. shyguy zweifelt noch, aber als ich ihm gut zurede, sagt er zu. ich merke, wie sich das mädchen freut, und das ist wichtig. mr. shyguy besitzt nämlich eine unheilvolle vorliebe für arschloch-weiber, die in der regel sehr hübsch sind, sich aber nur im auto rumfahren und getränke bezahlen lassen, sonst aber komplett hohl und herzlos sind. dieses mädchen ist anders, das spüre ich, und seit der lederjacke weiß ich wieder, dass gefühle manchmal überraschend kommen. vielleicht kann mr. shyguy darüber hinwegsehen, dass sie keine 90-60-90-puppenproportionen hat.

als wir so sitzen, kommt das objekt in den raum. es ist kurz nach fünf und das objekt offenbar am aufbrechen. es trägt seine motorradjacke und kämpft mit seinem schal.
"tschüß", sagt es zu mr. shyguy und dem mädchen, mit dem es sich vorhin auch unterhalten hat.
ich überlege kurz, ob ich schnell aufstehen und aus dem raum gehen soll. aber das objekt steht direkt vor mir und ich komme nicht mehr weg.

dann erlebe ich die überraschung des jahrhunderts. das objekt sucht meinen blick und sagt dann:
"tschüß, morphine..."
"tschüß", antworte ich vollkommen perplex.
das objekt geht nicht. es bleibt vor mir stehen und sieht mich sehr traurig an. dann stupst es mich mit dem fuß an und macht eine verzweifelte geste. ich bleibe stumm sitzen und weiß nicht, was ich tun oder sagen soll.
dann sagt das objekt ein zweites mal "tschüß, morphine" und verlässt langsam den raum.

mr. shyguy und ich starren uns an.
"wwwwas war denn das?" findet mr. shyguy als erster die sprache wieder.
ich zucke die achseln und gucke groß.
"mann, das war eine entschuldigung!" mr. shyguy ist ganz aufgeregt. "wahnsinn!"
"ja, ne?" berapple ich mich.
mr. shyguy rüttelt mich an den schultern.
"der will wieder mit dir reden! der will wieder freunde sein mit dir! das ist der anfang vom neuen anfang..."
ich bin wie betäubt und weiß noch nicht, was ich von der situation halten soll. in einer ecke meines herzens steigt freude auf. in der anderen angst.

ich erzähle der krankenschwester davon.
"ihr könnt doch sowieso nicht ohne einander", meint sie.
"ich kann sehr gut ohne ihn. die letzten wochen waren sehr okay so."
die krankenschwester sieht mich nachdenklich an.
"er hat mal mit mir über dich gesprochen... ich habe ihn gefragt, warum ihr nicht zusammen seid, denn dass ihr euch liebt, sieht ein blinder mit krückstock. er meinte dann, das sei für ihn wie im ehegarten... er wisse, dass ihr zueinander gehört, aber da seien immer wieder frauen, die er dann manchmal mehr liebt oder begehrt. und er könne diese geraden weg nicht gehen, er müsse all die verschlungenen pfade absuchen."
"verstehst du jetzt, warum ich nicht mehr kann? was soll ich mit jemandem, der abwesend ist? oder phasenweise so intensiv da ist, dass es einem das herz aus dem leib fetzt, wenn er dann wieder woanders ist? ich verlange ja nicht viel. ich brauche keine monogamie und ich brauche nicht viel zeit mit jemandem, weil ich selber viel zeit für mich will. aber ich brauche meine anknüpfungspunkte. oder die sicherheit, dass jemand anruft, auch wenn ihm mal nicht danach ist, einfach weil ich ihm wichtig bin, so wichtig, dass er es schafft, über seinen schatten zu springen."
"na, eben isser doch über seinen schatten gesprungen. du hast mir doch erzählt, dass er sich niemals entschuldigt und so."
"ja."
"na dann. sei doch mal zufrieden. du kannst nicht alle an deinen maßstäben messen. für seine verhältnisse war das wahrscheinlich eine anstrengung ohne gleichen. die hat ihm mut gekostet."
"hmhm."
die krankenschwester schubst mich:
"du kannst mir nicht erzählen, dass du dich gar nicht freust."
"doch doch, irgendwie schon."

gegen sechs uhr morgens lassen wir uns aus dem club kehren. als ich auf dem fahrrad sitze, weide ich mich an dem gedanken, dass sich das objekt auf mich zugewagt und den versuch einer entschuldigung gemacht hat. ich beschließe, das als meine persönliche nacht der deutschen einheit zu werten - und denke dann doch lieber weiter an die lederjacke.

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