Samstag, 24. März 2012
menschenskind
"ich würde dir nicht raten, von mir schwanger zu werden", sagt der mensch am telefon. "die wahrscheinlichkeit, dass das kind später auch mal schwerst sehbehindert wird, ist recht hoch."
"alles klar", sage ich. "außerdem würde es ja auch sehr intelligent werden, rückenkrank und zugleich völlig neurotisch und depressiv. alle faktoren zusammengenommen wäre es dann nur eine frage der zeit, bis es selbstmord begeht."
der mensch lacht, aber ich weiß, dass seine verzweiflung ob seiner existenziellen situation auch manchmal sehr groß ist.
"du bist für mich trotzdem kein x-beliebiger one-night-stand mit wiederholungsfaktor", sage ich dann sehr bestimmt und liebevoll.
"nein, so fühlt es sich auch nicht an", antwortet der mensch mit warmer stimme. "du bist mir auch nicht gerade egal."

das alles ändert nichts an der tatsache, dass ich die tage auf die tage warte und mir einige was-wäre-wenn-szenarien durch den kopf spuken.
"das kommt aber bestimmt vom stress", sage ich ins schweigen hinein. "außerdem, ich würde es ja eh nicht bekommen. wovon soll ich das denn durchfüttern?!"
"wenn du dir damit sicher bist, dann mach doch den test", rät der mensch ganz pragmatisch und vernünftig, so, wie der mensch eben ist.
"nächste woche mach ich einen."
der mensch durchschaut mich sofort:
"morphine, seit wann steckst du den kopf in den sand?"

vielleicht möchte ich mich noch ein paar tage an dem gedanken ergötzen, dass der mensch, das menschenskind und ich mal eine ziemlich verrückte, vom schicksal und der permanenten finanziellen und gesundheitlichen bedrohung gebeutelte, nichtsdestoweniger aber glückliche familie sein könnten. nur solange, bis wir dann ohnehin den tatsachen ins auge schauen müssen. dass es dem menschen immer schlechter gehen wird und es eines tages für immer nacht um ihn sein wird. dass unternehmen lieber abgaben zahlen als behinderte einzustellen. dass auch ich niemals an den punkt geraten werde, an dem ich für drei menschen sorgen könnte. dass auch meine gesundheitlichen probleme sicherlich nicht weniger werden. dass das alles die denkbar schlechtesten voraussetzungen für das menschenskind wären.

und weil man dem menschen eigentlich alles zumuten kann, sage ich ihm das so.
er schweigt sehr lange und meint dann zögerlich: "also eigentlich... so im grunde meines herzens... habe ich mir immer gesagt: wenn es passiert, dann passiert es eben. und wenn man dann trotz aller faktoren, die dagegen sprechen, zu dem schluss kommt, dass es irgendwie schlichtweg richtig ist... warum denn nicht?"

ich sitze auf dem parkettboden in der sonne, den hörer still an mein ohr gespresst, und lasse diese worte von der ohrmuschel bis zu den zehenspitzen durch mich hindurchrieseln. und obwohl gerade alles vollkommen durcheinander und viel zu viel ist, spüre ich, dass ich wieder ein stück mehr in meinem leben ankomme. weil der mensch und ich dieselbe sprache sprechen.

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